Tatsiana und ihr Verständnis.
Dann kamen die Schmerzen wieder. Meine linke Gesichtshälfte fühlte sich an wie taub.
»Was ist denn, Wasja?«
Ich stieß sie weg, konnte die Berührung nicht länger ertragen.
»Laß mich dir doch helfen.«
Wieder suchte eine ihrer Hände meinen Kopf, ich ergriff sie, preßte zu, bis Tanja aufschrie.
»Helfen? Wie denn helfen? Was denn helfen?«
Ich ließ los, rückte noch weiter von ihr ab, so nah wie möglich der Fahrertür zu. Ich hämmerte mit meinem Kopf gegen die Scheibe, hatte keine Lust, wie ein Schwerkranker von ihr behandelt zu werden. Bis ich aus dem Gröbsten raus wäre.
»Helfen. Das hättest du gern. Am liebsten wär’s dir, wenn ich im Rollstuhl sitzen würde, oder? Dann könntest du rundum helfen und dich gut fühlen dabei. Verschwende dich nicht. Spar dir deine wundervoll beschissene Opferbereitschaft für später auf, wir werden sie noch brauchen.«
Ich hatte Tanja nichts entgegenzusetzen, noch nie. Keine Hochherzigkeit. Kein Heldentum. Es gab nichts mehr zu beschönigen: Die Waagschalen senkten sich auf meiner Seite. Mein Verrat wog schwerer als der ihre.
Im Hotel versuchten wir, miteinander zu schlafen. Es gelang uns nicht. Nichts gelang uns. Wir lagen nackt nebeneinander, Tanja rauchte hastig, den Aschenbecher auf der Brust. Sie stellte ihn mit einem Scheppern auf dem Boden ab, legte sich zurück in ihr Kissen und starrte an die Decke. Dort oben müßten unsere Blicke einander begegnen.
»Wovon träumst du, Wasja?«
»Du meinst, wenn ich schlafe?«
»Wenn du wach bist. Wovon träumst du?«
Ich überlegte. Es muß so lange gedauert haben, daß ich hörte, wie Tanja zu einem neuen Satz ausholte, als ich endlich etwas sagen konnte.
»Schwer zu sagen. Wovon träume ich? Laufen. Ich würde gern mal wieder laufen. Barfuß. Über das Gras. Über die Wiesen. Die Hecken entlang laufen. Mir ein Loch in den Boden graben und meinen Antritt trainieren.«
Tatsiana wandte sich mir zu, lehnte sich auf den Ellenbogen, blickte mich an.
»Minsk ist so staubig. Das Gras ist schwarz vor Staub, weiß vor Staub. Da kann ich nicht laufen. Ich schmecke den Staub auf der Zunge, er knirscht mir zwischen den Zähnen, morgens, wenn ich aufwache, hab ich noch immer den Staub der nächtlichen Straße zwischen den Zähnen. Meine Zähne sind ganz abgeschliffen vom Staub und vom Knirschen.«
Ich schwieg. Ich roch Tanjas Zigarettenatem, der mir um die Nase wehte.
»Schwer zu sagen, Tanja.«
»Ja, schwer zu sagen, Wasja.«
Aus dem Augenwinkel sah ich, wie sich eine große Träne unter ihren Wimpern sammelte. Sie nickte unablässig.
»Mehr willst du nicht?« fragte sie, zwischen zwei Schluchzern, »mehr nicht?«
Noch am nächsten Morgen fuhren wir zurück. Es war so früh, daß außer uns niemand auf der Straße war, und so kalt, daß die Autoabgase Kondensstreifen bildeten, sie hielten sich lange, ich sah sie im Rückspiegel.
Wir hatten vergessen zu frühstücken. Tanja saß auf dem Beifahrersitz, hin und wieder liefen ihr Tränen über die Wange, die ganze Fahrt über hielt ich, hielt sie meine rechte Hand auf ihrem linken Knie. Ich lenkte einhändig, ich schaltete einhändig.
»Ich sollte mich nicht verschwenden. Du hast so unfaßbar recht. Und ich hab so unfaßbar Angst, du könntest recht behalten«, sagte sie.
Dann übersah ich die Stop-Stelle. Ein russischer Kleinwagen krachte ungebremst in den Fond meines Autos. Wie durch ein Wunder geschah niemandem etwas.
Barfuß kann man keinen Krieg gewinnen
Ich war wieder allein mit meinen Büchern über den Ungarn-Aufstand. Las über die Amerikaner, die den Pester Aufständischen zum »Mann des Jahres« wählten, als alles vorbei war. Leider gab es kein Fundraising dafür. Las über die Österreicher, die ihre Armee zum Entsatz der ehemaligen Bundesbrüder anmarschieren lassen wollten, aber nicht genügend Stiefel für sie hatten. Wir warten noch auf eine Stiefellieferung aus der Schweiz, bittschön solange die Kriegshandlungen einzustellen, sich am Grenzzaun in Reih und Glied aufzustellen und keine Verunreinigungen abzustellen. Habe die Ehre. Barfuß kann man keinen Krieg gewinnen.
Das orthodoxe Weihnachtsfest war noch nicht ganz vorüber, da befahl mir Alezja schon wieder.
»Ich will dich sehen.«
»Komm vorbei.«
»Komm du. Die beiden sind bis morgen weg.«
»Spinnst du? Und wenn uns jemand sieht?«
»Reizvolle Vorstellung… genau, laß uns das so machen – «
»Ali!«
»Hm?«
»Ich komme. Aber nicht vor Einbruch der Nacht. Und wir verkaufen keine Eintrittskarten!«
Ich fragte mich, weshalb mich Lesja nicht schon längst losgelassen hatte. Weshalb sie mich noch immer haben wollte.
Sie wußte, daß Tanja und ich uns nur noch selten sahen. Ich wußte, daß Lesja neben mir zahllose Affären hatte. Doch als wir auf ihr Drängen den Sex in die Toilette verlagerten, dort, wo man wegen der Enge des Raums die Tür nicht schließen konnte, dort, wo sie lernen mußte, sich an die Männer zu gewöhnen, eine Idee, die alles toppte, was sie zuvor ausgeheckt hatte, als Lesja mich antrieb, immer und immer wieder ihren neuen Namen zwischen den Atemstößen zu rufen, zu schreien, Ali, Ali, Ali, wurde mir, schon heiser von den offenen Vokallauten, schlagartig bewußt, daß sie von mir etwas bekam, was die anderen, die ihr Spiel mit ihr trieben, ihr nicht geben konnten. Selbst in der Brutalität, die der Akt zwischen uns hatte, fühlte sie sich als sie selbst, mit ihrem neuen Namen, Ali, den ihr der Teufel gesagt hatte (kein Wunder, war sie doch des Teufels Großmutter), fühlte sie sich »gemeint«. Von mir fühlte sie sich »gemeint«. Lesja benutzte mich für Experimentanordungen in Sachen Selbstbestätigung. Und ich ließ mich benutzen. In Ketten legen. Wir tobten uns aufeinander aus. Wenn auch immer schneller außer Atem als früher.
Dann wieder gab es dieses Schweigen. Zwischen Lesja und mir. Unser Schweigen. Wenn ich nicht sprach. Das Schweigen, das ich als Hohn deutete. Sie verhöhnte meine Feigheit, verhöhnte den Intellektuellen und seine »hochfliegenden Pläne« (welche Pläne?, welche denn nur???).
Wahrscheinlich hatte ich ihren Namen zu oft geschrien und bekam davon eine schwere Kehlkopfentzündung. Der selbst nicht gerade wortgewandte Arzt drückte mir Doxycyclin in die Hand und mümmelte: »Reden ist Silber«.
Unser Donnerstag wurde zur Farce. Ich hatte mir meine wenigen und gezielt gesprochenen Sätze für den Portier aufgehoben. Von diesem Moment an fiel kein Wort zwischen uns.
Lesja machte Anstalten, nach dem Sex noch auf einen Absacker in die hoteleigene Bar zu gehen. Die zur Disco umfunktioniert worden war. Oder was man hier auf dem Land für eine Disco hielt. Aus den Boxen krachte schlechtgemischter Sound aus russischer Massenproduktion. Wir bestellten Baltika 3 und Wodka, Lesja schüttete ihren einfach ins Bier, trank ab, bestellte neuen. Auf diese Weise brachte sie es zu einer ansehnlich alkoholhaltigen Neige in ihrem Glas, die sie ruckartig stürzte. Eine an der Wand angebrachte Plexiglasscheibe strahlte hellblaues Licht, die Discokugel orangefarbenes. Die Kneipenbeleuchtung teilte Alezjas Gesicht scharf in eine blaue und eine orangene Hälfte. Auf der orangefarbenen Hemisphäre zeigten sich Schweißspuren. Plötzlich zog sie ein kariertes Stück Stoff aus ihrer Handtasche. Sie hatte sich an Tanjas Reliquien zu schaffen gemacht, lehnte sich zurück und sah mich herausfordernd an.
Ich wischte die Manschette zur Seite. Mit meinem rechten Zeigefinger begann ich damit, Brotkrumen vom Tisch zu kicken. Je länger unser Schweigen anhielt, desto mehr erhöhte ich meine Schlagzahl gegen die Brösel, als wären sie Teil einer konterrevolutionären Kulturoffensive. Alezja rauchte, starrte vor sich auf den Tisch. Am Mischpult war man auf Heavy Metal umgestiegen. Oder das, was man dafür hielt.