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»Schreib das unserem Herrn Präsidenten.«

»Was macht die Promotion, Stas?«

»Sag bloß, das weißt du noch nicht? Hat dir Tanja nichts gesagt?«

Ich stutzte. Tanja? Weshalb sollte mir Tanja etwas über Stas erzählen? Das letzte Mal, als die beiden zusammengekommen waren, hatte sie gerade aufgehört, mit ihren Puppen Sprechstunde zu spielen. Ich sah, wie Stanislaus Hände zitterten, er versuchte, sich mit einem Feuerzeug eine Zigarette anzuzünden (er war endlich von Belamorkanal abgekommen, halleluja!), aber er schlug nur kleine Funken aus dem Zündstein, schüttelte es, schlug Funken, er gab auf und sah mich mit einem sehr belämmerten Gesichtsausdruck an, die trockene Kippe zwischen den Lippen.

»Ich bin raus. Sie haben mich relegiert.«

»Das hab ich nicht gewußt. Ehrlich, Stas, tut mir leid.« »Schon in Ordnung«, sagte er. Er hatte von einem der Umstehenden Streichholzbriefchen bekommen, mehr als er hätte tragen können.

»Schon in Ordnung. Oder magst du darüber schreiben? Darüber, daß schon wieder Gesinnungswissenschaft in diesem Land betrieben wird?«

»Ach komm, Gesinnungswissenschaft betreiben sie im Westen doch auch.«

»Aber da halten sie sich an gewisse Prinzipien.«

»Die sie vorher selbst aufgestellt haben. Wie einen Meilenstein, einen für alle Zeiten und Landstriche gültigen Weg zum politischen Heil. Die machen sich ja nicht einmal Gedanken über ihre Vorurteile.«

»Dann schreib doch darüber, was gestern hier auf dem Oktoberplatz passiert ist.«

»Was ist denn passiert?«

Das sei doch in aller Munde gewesen, ereiferte sich Stas: Alte Frauen waren herbeigeströmt und hatten Suppen und böse wie gute Worte gebracht, die einen, um damit aufzustacheln, die anderen, um Mut zu machen, Mut zum Durchhalten. Aber als es Abend wurde, begannen immer mehr Demonstranten sich zu übergeben. In der Nacht kamen die Koliken dazu, einer nach dem anderen besudelte sich die Hose. Die meisten wurden vom Notarzt, einige von der Polizei mitgenommen. Bis zum Morgen blieben nur die übrig, die auf Omas gute Suppe verzichtet hatten.

»Vor den Kameras sieht das jetzt natürlich nach Resignation aus. Eine Handvoll Spalter, die noch nicht einmal durchhalten, wenn das Volk ihnen zu Hilfe kommt. So oder so kann man eine Demonstration auflösen und einen Platz räumen, Wasja. So oder so.«

Ich bat um eine Zigarette, inhalierte meine Sprachlosigkeit, hustete, dachte an die Budapester Revolutionswitwen. Wir lebten in erbärmlichen Zeiten!

»Und? Hast du uns auch etwas zu essen mitgebracht, Wasja? Na dann: Mahlzeit.« Wenige Tage später krachten Linienmaschinen in die Schaltzentralen der amerikanischen Macht. Als wir in der Redaktion davon erfuhren, war die Nachricht schon mehrere Stunden alt. Jemand sprach davon, daß die Amerikaner jetzt wieder einen Krieg beginnen würden, und alle zuckten mit den Schultern.

»Wir sollten das aber wirklich bringen«, sagte der Jemand und erntete einen bösen Blick des Chefredakteurs.

Wir brachten es. Tage später. Ein Einspalter auf Seite 14. Unter Vermischtes.

Katzendämmerung

2004 erhielt Tatsiana einen Studienplatz in Minsk. Statt dem üblichen Zimmer in einer Kommunalka, mit dem sie sich bereits arrangiert hatte, fand sie eine eigene Wohnung. Ihre Vermieterin war eine alte Frau, die zu ihrem Sohn gezogen war, mit dem Mietzins wollte sie die winzige Pension aufbessern. Ich sah der überraschenden räumlichen Nähe mit einer Gleichgültigkeit entgegen, die mich selbst verwunderte, stellte mir vor, wie Tanja eines Tages mit einer Flasche Schampanskaje vor der Tür stünde, und Lesja nackt dahinter. Ich ließ das Bild lange Zeit einwirken, wie Salz in einer Wunde. Nichts. Kein Brennen, keine Schmerzen. Nichts.

Und doch hatten wir unmittelbar nach ihrem Einzug Sex. Abschiedssex, wie sich herausstellen sollte. Zehnmal Schwarzlackiertes verkrallte sich in die Küchengardine.

»Da wäre etwas, worüber wir reden sollten, Wasja.«

»Nächstens, ja? Komm erstmal an.«

»Gut, dann komme ich eben erstmal an.«

So half ich Tanja beim Sicheinleben in die neue Stadt. Mjensk. Minsk.

Marya war nun wirklich aus dem Gröbsten heraus. Sie hatte ihre älteste Schwester regelrecht dazu gedrängt, endlich einmal an sich zu denken. Manja verzichtete auf die Reifeprüfung, sie besuchte eine Berufsschule, nahm in Kauf, daß sie weiterhin die Wohnung mit Lesja teilen mußte. Als Tanja mit ihren Umzugskartons das Städtchen verließ, knirschte die Mittlere mit den Zähnen, das Mausen der Bananen werde sie der Kleinen schon noch austreiben, und dann bat sie Tanja, sie ab und an in Minsk besuchen zu dürfen. Was sie auch tat. Meist nachdem sie zuvor bei mir gewesen war.

Die neue Kulturleitlinie hatte mir schon zweimal nicht gutgetan. Eine dritte Zeitung wollte es erst gar nicht mit mir versuchen. Der Rest von Vaters Erbe, so hatte ich ausgerechnet, würde für anderthalb Jahre reichen, wenn ich keine Arbeit fände.

Ich fand keine Arbeit. Ich nahm das Studium nicht wieder auf.

Stanislau begann damit, die Präsidentschaftswahlen vorzubereiten. Zwei Jahre vor der Zeit. Wir sahen uns selten, alle paar Monate. Er war zu einem wichtigen Mann in der Opposition geworden. Was auch immer das bedeuten mochte in einem Land, in dem es auf den ersten Blick überhaupt keine Opposition zu geben schien.

An der Planung und Vorfinanzierung eines in Polen beheimateten belarussischen Senders hatte er sich beteiligt, eines »freien Senders«, wie er nicht müde wurde zu betonen. Eines Senders, den wir in Belarus schon aus technischen Gründen gar nicht empfangen würden. Und wenn er dann sein Programm nur auf Weißrussisch ausstrahlte, wäre die ganze Aktion ohnehin nur »for show«. Für hunderteinundfünfzig Exilanten, die in Polen oder Litauen untergekrochen waren. Oder aber für den Westen, um ein Lebenszeichen aus dem Nebel zu senden, wie ich nicht müde wurde zu betonen.

Immerhin sahen das einige Regierungsleute anders. Beinahe monatlich wurde Stanislau in Polizeigewahrsam genommen.

»Ich kenne Ecken von Minsk, von denen du nicht einmal weißt, daß sie existieren«, sagte er und rieb sich die rotgeäderten Augen. Er war wieder auf Belamorkanal umgestiegen.

Als der Frühling da war, schlug Stanislau vor, wieder mal etwas zu unternehmen, nur wir zwei, am Polentümpel nach dem rechten (und dem linken) zu sehen. Ich war wenig begeistert, selbst als er darauf bestand, die Zugkarten für uns beide zu bezahlen. Seit über zwei Jahren war ich nicht mehr in unserem Städtchen gewesen, wieder mied ich unser Haus wie den Hort einer ansteckenden Hirnkrankheit. Aber weil Stanislau darauf bestand, schließlich habe er mir etwas zu berichten (oder sagte er »beichten«?) – ich nahm an, es handelte sich um finanzielle Unterstützung für seinen Sender aus ultrakonservativen westlichen Kreisen, »beichten« wäre dann das rechte Wort gewesen –, und weil ich wußte, daß Tanja und Lesja das ganze Wochenende in Minsk waren, sagte ich zu.

»Eine Ruderpartie«, lachte er, als er mein Gesicht und ich das abgewrackte Bötchen sah, das seine Familie in der Garage aufbewahrte.

Eine Ruderpartie. Auf dem Polentümpel. Fünfzig mal fünfzig Meter. Das verhieß nichts Gutes. Vermutlich war es noch schlimmer, was da in Sachen Radio zu beichten war.

Trampelpfade über abgeböschten Feldrain in die Gartengrundstücke meiner Kindheit. Marya war müßig, drückte sich um das Haus herum. Sie hatten Großpapas Elektroschrott entsorgt, für mein Erbe wäre es jetzt zu spät gewesen (mehr als einen Moment dachte ich darüber nach, wie mein Leben ohne dieses Erbe wohl verlaufen wäre). Sie schien meinem Jugendfreund nicht über den Weg zu trauen. Dabei war es Stanislau, der sie schließlich dazu aufforderte, mit uns zu kommen. Marya verschwand ins Haus, um sich umzuziehen.