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»Ist dir doch recht, oder?«

Ich wußte nicht, ob es mir recht war. Ich hatte Manja seit Jahren nicht gesehen, sie nie wirklich beachtet. Sie schien mir noch immer ein schmales, weiches Mädchen mit ihren sechzehn Jahren. Ich wäre nie darauf gekommen, daß sie nicht zu klein für so etwas wäre, sie war ja gerade erst zwei Jahre alt. Sie war immer nur zwei Jahre alt. Basta.

Obwohl es winzig war, hatten wir Mühe, das Boot an den Tümpel zu tragen. Marya ging neben uns her. Sie brach eine Moosbeerenrispe, zielte mit den winzigen unreifen Früchten ins Grün. Bienen, Wespen, Fliegen fuhren auf und warfen sich zürnend zurück in den Holunder. Stille über den Feldern. Erhabene Stille. Wahnwitzige Stille. Völlig idiotische Stille für den Städter, der ich geworden war.

»Rudern!« schimpfte ich, schweißstarrend, als wir endlich angekommen waren und uns von der Last befreiten, »früher wollten wir hier in die Tiefe tauchen, jetzt gehen wir rudern. Was ist bloß aus uns geworden, Stas?!«

»Sei froh, wenn wir nicht tauchen müssen. Ganz geheuer ist mir das Boot nicht, wenn ich ehrlich sein soll.«

Es leckte zum Glück nur aus drei kleineren Löchern, die ich mit Proviantverpackungen verspundete. Was wirklich leckte, war die Unterhaltung auf engstem Raum. Ich beschränkte mich darauf, den beiden zuzuhören. Stanislau, der die meiste Zeit am Ruder saß, sprach mit Marya über die Schule, über die Schwestern, über das Leben an der Westgrenze unseres Landes, dort, wo es seit kurzem an die Europäische Union stieß. Ich bemerkte, daß er inzwischen viel Übung darin hatte, solche Gespräche zu führen. Politikergespräche. Die in Erfahrung zu bringen suchten, was das Volk denn so dachte. Die Jugend. Die Pensionisten, die Arbeiter, die Frauen, der Mittelstand, die Intelligenzija, die Züchter von Luxushamstern, die Liste ist beliebig erweiterbar. Stanislau war ganz Volksvertreter geworden, der sein Ohr überall hatte, aber alles, was in die Tiefe ging, überhören würde. Ich strengte mich an, nicht mehr angestrengt zuzuhören. Sonst hätte ich kotzen müssen.

Und dann, als ich hinsah statt hinzuhören, entdeckte ich, wie sein Auge für Momente schmerzvoll auf Marya ruhte, auf ihren Händen, und dabei mochte er an Jadwiha denken. Heute wäre sie nur ein paar Jahre älter als Manja. Und vielleicht ebenso schön.

Marya. Von mir unbemerkt war sie herangewachsen und hatte diese Phase der Jugend erreicht, in der sie ganz heiliger Ernst und missionarischer (oder zumindest reformatorischer) Eifer ist, das für gut und recht Erkannte durchzusetzen und es aufs äußerste zu verteidigen; mehr noch: diese Phase, in der die Jugend ganz Glaube ist, den Verworfenen und seine verworfene Welt reinigen und retten, ja, an sich aufrichten zu können. Vielleicht war sie gerade auf der Suche nach solch einem Verworfenen. Und sie sah um sich (meist hinauf, bei ihrer Größe), immer auf der Suche nach etwas, das sie ganz und gar gutheißen könnte. Du sollst etwas gutheißen können. Ihr elftes Gebot.

Nach der x-ten Kreisvermessung begann die Ruderpartie nun wirklich zu langweilen. Ich registrierte mit klammheimlicher Freude, wie ein Gewitter von Polen heranzog. Unter denselben Flüchen wie auf dem Hinweg trug ich meine Last zurück. Marya hatte uns schon am Tümpel verlassen, sie wollte nach Hause, Essen vorbereiten. Ich sagte, ich käme bei Stanislau unter, aber der winkte ab, geh nur, bedeutete mir sein Blick, hier ist die Jugend, da kann man noch etwas gutmachen, hier ist Rhodos, hier springe.

Ich dachte nicht daran, heute noch irgendetwas zu tun, geschweige denn zu springen. Aber dann kam der überfallartige Regen, ein Krieg zwischen Himmel und Erde. Wie im Himmel. So auf Erden. Von oben waren wir durch das Boot geschützt, doch der Sturm trug die Feuchtigkeit von allen Seiten an uns heran, pudelnaß enterten wir die Garage von Stas’ Eltern, vor Erschöpfung lachten wir, bis ich Seitenstechen und Stanislau einen Hustenanfall bekam.

»Wir reden ein andermal, ja?«

»At your command! Du wolltest reden, nicht ich.« Stanislau drückte mir stumm die Hand. Er drehte sie so, daß meine oben auflag. Ein Zeichen der Unterwerfung, dachte ich, oder der Abbitte. Stand es so schlimm um den Sender, waren es etwa Mafiagelder?

»Waldfee!« rief ich, als ich die Haustür öffnete, »ich bin klitschnaß, ich geh erstmal duschen, hab eigentlich auch keinen Hunger, ich – «

Manja kam mit zwei Tellern in der Hand auf den Flur. Sie hatte sich eine Küchenschürze umgebunden. Ich sah, daß sie ziemlich wenig darunter trug. Einen Moment blieb ich wie ein Trottel auf der Türschwelle stehen.

»Kochst du immer im Bikini?« fragte ich.

Marya blickte an sich herab, die Augenbrauen vor Irritation zusammengezogen, dann sah sie wieder zu mir her.

»Duschst du immer im Hemd?«

»Nein«, sagte ich und bemühte mich, ein Lächeln aufzusetzen, »nein, nur wenn meine kleine Tante in der Nähe ist.«

»Willst du wirklich nichts essen?«

»Wirklich nicht. Danke.«

Ich brauchte lange im Badezimmer. Dann legte ich mich aufs Sofa, verdöste den Tag. Als es Abend wurde, trat ich auf die Veranda. Es hatte aufgeklart. Diese nimmermüden Frühlingsnächte. Mit Regenbogenhorizont. Ein schwarzer Rachen, der sich auftut und gierig immer mehr Rot verschlingt. Bis nur ein letzter, fast leerer Streifen Violett verbleibt. Violett. Dann Blau. Dann Finsternis. Finsternis über Hrodna, Finsternis über dem Westen.

Ich setzte mich. Im übervollen Aschenbecher begann ich nach Kippen zu suchen, die Tanja, nicht Lesja gehört hatten, also so gut wie keine Lippenstiftspuren trugen. Ganz unten wurde ich fündig. Ich dachte an den Abend vor zehn Jahren, als wir uns wiedergefunden hatten. Plötzlich war es da, das Bedürfnis zu laufen, mit langen harten Schritten auf meinen Ballen. Ich wollte mich für meine Schwäche bestrafen, aber mir fiel nichts Passendes, nichts Unpathetisches ein. Ich hatte alles verdorben, nicht nur einmal, sondern wieder und wieder und wieder, immer, wenn ich mit Lesja geschlafen hatte. Es ließ sich nichts mehr daran ändern. Die Gefühle waren aufgebraucht, sie würden nicht mehr wiederkommen. Vielleicht hätten Tanja und ich noch eine Chance auf Wandlung, aber nicht mehr auf Neubeginn. Dabei ersehnte alles in mir so sehr einen Neubeginn.

Es war nicht mehr hell, war noch nicht dunkel. Der westliche Himmel hatte sich über dem Horizont tiefblau gefärbt, in der Höhe war er grau geworden. Marya trat aus der Tür, sah in die Ferne, und dehnte sich behaglich.

»Katzendämmerung«, sagte sie.

»Katzendämmerung?«

»Die Stunde nach Sonnenuntergang. Wenn es Sommer wird. Die Kater kommen heraus, sitzen rum und warten auf ihre große Zeit.«

»Wenn die Mäuse kommen?«

»Wenn die Katzen kommen.«

»Die Katzen. Natürlich.«

Ich erwartete einen Kommentar wie: »Was hat man euch eigentlich an der Uni beigebracht?« Aber der kam nicht. Denn das hier war Marya. Nicht Tatsiana. Nicht Alezja. Marya war nicht ironisch. Oder noch nicht. Oder noch nicht oft.

»Wasja«, sagte sie unvermittelt, »entspann dich, streng dich einfach nicht so an, ok?«

»Was meinst du?«

»Ich meine: ich freue mich, wenn du da bist. Ich mag dich nämlich, falls du das noch nicht weißt. Aber du mußt meinetwegen nichts Besonderes tun oder so. Das erwartest du die ganze Zeit nur von dir selbst. Ich kann mich ganz gut allein beschäftigen.«

»Ich muß also nicht Väterchen Frost spielen?«

»Und du mußt mir auch kein Geschenk mehr machen, in dem nichts drin ist.«

Ich senkte meinen Blick, ein Lächeln drängte herauf.

»Ich hatte befürchtet, daß es nicht funktioniert hat.«

»Nein, nein, funktioniert hat es, und wie es funktioniert hat.«