Marya geriet ins Stottern.
»Also je nachdem, was du eigentlich damit beabsichtigt hast. Es war jedenfalls total süß, daß du dich so um mich bemüht hast. Keiner hat sich damals so um mich bemüht.«
Ich räusperte mich.
»Ja, Tanja schon, aber das war was anderes. Kein Fremder.«
Ich nickte.
»Aber jetzt bin ich groß. Du mußt dich nicht bemühen.
Mach dir einfach keinen Streß. Ok?«
»Ok.«
Marya gab mir einen Nasenstüber, bevor sie ins Haus ging. Mir. Ihrem dreißigjährigen Neffen. Marya. Die Nierenkosterin.
Als es mir eine halbe Stunde später doch zu kalt wurde und mein Magen zu knurren begann, fand ich sie in der Küche über ein Buch gebeugt.
»Was liest du?« fragte ich, während ich mich über den Kühlschrank hermachte.
fiel ich in ihren Sprechrhythmus ein,
Sie blickte mich an. Ich hatte mir Wurst, Butter und Brot genommen, aß gierig.
»Du kannst das auswendig, Wasja?«
»Ich hab Thomas Wolfe auf dem Internat gelesen. Er hat mir das Leben gerettet. Er und Blok und Rimbaud – «
Marya wippte mit Kopf und Körper im Takt eines unhörbaren Rhythmus’, aufgeregt, erregt, als sie den Faden weiterspann:
» – und Sologub, und Brjussow, und Balmont. Nur Claudel mag ich nicht.«
»Ich auch nicht. Ist mir zuviel – «
»Kackruß, katholischer?«
Ich lachte. Diese Worte von diesen Lippen! Ich lachte und verschluckte mich an einem Wurstbrocken. Woher hatte sie nur diese Worte?
Als ich mich endlich beruhigt hatte, erzählte sie mir, was ihr die Bücher bedeuteten, wie sie ihr Halt gaben in diesen Jahren. Sie konnte gar nicht mehr ablassen, an mich auszuteilen, was sie an Überfülle besaß, was sie vor Neugierde auf das Lesen, auf das Leben überlaufen ließ. Ich erschrak über ihre Formulierungen. Ebensogut hätten sie von mir sein können, von mir, als ich in ihrem Alter war. Es war mehr als nur eine Reminiszenz an das Internat. Das war nicht das fremde Kind, das anzutreffen ich erwartet hatte. Marya war nicht fremd. Und nicht Kind.
Dann hielt sie abrupt inne und stand auf.
»Banane?« fragte sie. Sie stellte eine ganze Schale voller Südfrüchte vor mir auf den Tisch und nahm wieder Platz.
»Die gehören Lesja, oder?«
»Na und?«
Marya hatte eine Banane geschält, biß ab, fuhr sich mit der Zunge über die Zähne. Mir fielen an ihrer Kehle rechts und links der Mitte zwei deutlich ausgeprägte Muttermale auf, die einander gegenüberlagen, sich belauerten. Jedes Mal, wenn sie schluckte, hoben und senkten sie sich.
»Hast du etwa Angst vor ihr, Wasja?«
»Du nicht?«
»Vor ›Ali‹?«
Marya lachte.
»Die mich, bevor sie ausgeht, ungefähr neunzehnmal fragt, ob die Farben zusammenpassen, ob schwarzer Lippenstift ihr ebenso gut steht wie Tanja, ob ihr Rock kurz genug ist? Vor der soll ich Angst haben?«
Du siehst nicht, wie sie wirklich ist, dachte ich, du siehst, was du sehen möchtest. Sie ist wie die Baba Jaga. Sie blendet dich. Und sie wird dich so gut wie mich fressen.
Manja hatte wohl auch von mir ein Lachen erwartet. Ich schwieg. Sie begann mich zu fokussieren. Eine mimische Handlung. Ein Etwas, das ich auch von Vater und mir kenne, das in der Familie Verbreitung gefunden hat. Ich weiß nicht, ob es von unserer latenten Kurzsichtigkeit herrührt, die aber niemals dazu geführt hat, daß irgendjemand eine Brille benutzte, man übte immer nur diese kleine mimische Handlung: in Momenten höchster Konzentration, Momenten des Auf-dem-Sprung-Seins, spitzen wir förmlich die Augen, verengen sie zu schmalen Schlitzen, öffnen sie und verengen sie wieder, die Pupillen werden groß, der Blick bekommt etwas Raubtierhaftes. Bei Marya wurde es dadurch abgemildert, daß der Schnitt ihres linken Auges ein wenig nach unten, der des rechten nach oben gezogen war. Ein mildes Raubtier. Kein wildes.
»Weißt du, was das mit ›Ali‹ eigentlich soll?« fragte ich nach einer Pause. Sie zuckte mit den Schultern.
»Wahrscheinlich wollte sie so schlank sein wie Ally McBeal. Und so taff.«
»Ally McBeal?«
»Oh Gott, wie alt bist du, Wasja? 100?«
»150, um genauer zu sein. Ich bin die Wiedergeburt von Arthur Rimbaud.«
Manja prustete los:
»Wahnsinn. Ich möchte mit dir schlafen.«
Ich schluckte.
»Das möchtest du nicht, Manja.«
Ich schluckte.
»Glaub mir, das möchtest du nicht.«
Es war eine schlaflose Nacht, die ich verbrachte. Wie fast alle Nächte, die ich nach meiner Rückkehr aus Ungarn in diesem Haus verbracht hatte. Ich wünschte mir ein Buch herbei, um sie durchwachen zu können, aber ich hatte nichts mitgenommen, nicht einmal eine Zahnbürste. Und was sich ansonsten an Literatur in diesem Haus befand, war in Maryas Schlafzimmer.
Ich wußte, daß Lesja im Laufe des Tages aufkreuzen würde, mußte vermeiden, ihr zu begegnen, und so schlug ich Manja vor, einen Spaziergang zu machen. Ich sollte Stanislau erst nachmittags auf dem Bahnhof in Hrodna treffen.
Marya lenkte unseren Weg zu den Familiengräbern. Wahrscheinlich ist das ein menschheitlicher Urinstinkt: Familienmitglieder suchen zusammen ihre Ahnen auf, daran führt kein Weg vorbei. Das Grab meiner Eltern war wild überwachsen, Marya begann, hier und da Unkraut und Efeu zu zupfen, aber sie sah nach wenigen Handgriffen ein, daß das nicht genügen würde. Umso mehr überraschte mich Großmamas Doppelgrab, auf das jemand sehr viel Pflege verwandt hatte. Wahrscheinlich war es Marya. Wahrscheinlich war es noch immer das schlechte Gewissen gegen die Mamuschka. Marya, die Nierenkosterin.
»Schön«, sagte ich, »schönschön. Für Großpapa vielleicht ein bißchen viele Blümchen, außer roten Nelken hat er das Gewächs nicht ausstehen können. Aber es wird ihn nicht sehr stören, er ist ja gar nicht mehr da.«
Marya fokussierte mich. Ihre Augen bekamen einen fiebrigen Glanz. Als ich ihr sagen wollte, daß ich lediglich einen Scherz gemacht hatte, zog sie mich an den Armen weiter, aus dem Friedhofstor hinaus, dem Schlittenhügel zu. Sie hatte unseren Schritt so sehr beschleunigt, daß von Spazierengehen nicht mehr die Rede sein konnte.
»Brrrr, meine jungen dunklen Pferde«, feixte ich, »wo willst du denn hin, Manja?«
Sie ging noch einige Schritte weiter, dann stellte sie sich mit verschränkten Armen hin. Sie fröstelte. Die rechte Hand rieb beständig den linken Oberarm.
»Ich weiß auch, daß er nicht da ist.«
»Wer?«
»Der Rote Stepan. Dein Großpapa.«
»Weil?«
»Weil er mir ein paarmal begegnet ist.«
»Wo?«
»Hier.«
Ich versuchte, so beiläufig wie möglich zu klingen.
»Und wie war er, Manja?«
»Nüchtern.«
»Dann war er es nicht.«
»Nein, ich meine: sehr sachlich. Er hat mir einfach nur Ratschläge gegeben.«
»Zum Beispiel? Wie man einen Elektromotor repariert?«
»Nein. Wie man es aushält, einsam zu sein.«
»Aber du warst doch nicht allein. Tanja war doch immer da.«