»Ich habe ›einsam‹ gesagt, nicht ›allein‹.«
»Und dann hat ausgerechnet er dir geraten, symbolistische Dichter zu lesen?«
Marya hielt in ihrem Warmreiben inne. Sie nahm ihren Schritt wieder auf, weiter in Richtung Schlittenhügel.
»Nur weil ich erst 16 bin, heißt das nicht, daß ich dämlich bin, ok?«
Ich holte sie ein, legte ihr den Arm um die Schulter.
»Ok, Manja. Ich hab’s nicht so gemeint. Ich versuche nur herauszufinden, ob das wirklich Großpapa gewesen sein kann. Wann, sagst du, hat das begonnen?«
»Mit Mamuschkas Tod.«
Mit Großmamas Tod. Hatte ich den Alten gar nicht in Budapest gelassen, sondern hierher mitgebracht, hier zu ihr? Oder hatte sich einfach nur meine Beklopptheit auf dieses Kind übertragen?
»Ich weiß, das klingt dämlich«, sagte Marya, sie hatte sich bei mir untergehakt. Ich wiegelte ab.
»Doch, das klingt dämlich, deshalb hab ich auch niemandem davon erzählt. Aber es war einfach so – normal, verstehst du? Ich meine: er war da, er hat mit mir gesprochen, so wie du mit mir sprichst.«
»Hat er dich dabei angesehen?«
»Nein. Angesehen hat er mich nie.«
»Mich auch nicht.«
Wir hatten die Hügelkuppe erreicht. Ich wußte, ich müßte Marya nichts erklären. Wir standen und sahen in die Weite, noch immer Arm in Arm. Es war dieselbe Blickrichtung, in der ich ihn das erste Mal gesehen hatte. Dann spürte ich, wie Maryas Augen plötzlich auf mir ruhten.
»Warum willst du mit der Schule aufhören, Manja?«
»Weil ich nicht gut bin.«
»Wie kommt’s? Ich meine: du bist klug – «
(Beinahe hätte ich hinzugefügt: »…und schön!«)
»Bin ich das?«
»Komm schon, das weißt du.«
Marya schwieg. Sie wurde unsicher und unruhig, drängte aus meinem Arm.
»Ich hab mich gelangweilt. Ich hab während des Unterrichts Gedichte gelesen. Meine Lehrer haben mir gesagt, ich sei faul oder dämlich oder beides. Meine Klassenkameraden haben es auch gesagt, und sie haben es mich spüren lassen.«
»Und Tanja?«
»Meine Entscheidung. Sie respektiert sie.«
Wir nahmen den Weg wieder auf.
»Verpasse ich etwas, wenn ich nicht auf die Uni gehe?« »Ich weiß nicht. Vielleicht. Wenn man so studiert wie Stanislau: Ja. Wenn man so studiert wie ich: Nein.«
»Wie hast du denn studiert?«
»Gar nicht. In Minsk hab ich gar nicht mehr studiert. In Budapest schon.«
»Erzähl mir davon.«
»Von der Uni?«
»Von Budapest.«
Ich erzählte Marya von Gábor und seinen Joints, die er in ominösen Plastikbeuteln aufbewahrte, auf denen unter dem Hoheitszeichen der Freibeuter »ABC-Probe« stand (des Frischhalte- wie Abschreckeffekts wegen); erzählte von meiner den Marktgesetzen angepaßten Wohnung, von Großpapas Besuchen, von meinen Träumen, per Zeppelin eine riesige Betonplatte zu transportieren und sie, wenn der internationale Kapitalismus mal wieder eine Zusammenkunft dort abhielte, über dem »Vierjahreszeiten« abzukoppeln. Ich erzählte vom Jánoshegy und von Turul, dem Adler des Stammesgottes Isten, wie er mit kräftigem Flügelschlag die Reiterscharen der Ungarn westwärts trieb, immer westwärts, die großen dunklen Pferde. Dann schwieg ich abrupt.
»Das klingt schön.«
»Schön ja, toll nein.«
Wieder fokussierte sie mich, stellte ihre Trennschärfe
ein.
»Ja«, sagte ich, um die Irritation nicht noch mehr zu steigern, »es ist eine schöne Stadt. Aber wer mag schon Städte, die schöner sind als man selbst?«
»Nimmst du mich mit, wenn du das nächste Mal hinfährst?«
»Ich glaube nicht, daß das geht.«
»Warum nicht?«
»Ich hab kein Geld mehr. Und Ungarn ist jetzt in der EU. Allein die Visa würden ein Vermögen kosten. Ob legal oder illegal.«
Wir waren bei der Busstation angekommen. Ich sagte »kézicsókolom«, küßte Marya, so formvollendet, wie es mir möglich war, die Hand. Sie umarmte mich zum Abschied und flüsterte mir ins Ohr:
»Ich glaube, du würdest das hinkriegen mit den Visa. Wenn es einer hinkriegt, dann du, Wasja.«
Vor dem Wartehäuschen tauchte plötzlich eine Katze auf. Sie sah mich. Erschrak. Sie fauchte. Ich fauchte.
Ich schlich herum wie ein Kater.
Der kündende Morgenvogel
Zwei Tage vergingen, dann traf ein Brief von Marya ein. Er enthielt eine Buchbestellung, überwiegend französische Autoren. Ich mußte ihr versprechen, sie mitzubringen, wenn ich das nächste Mal nach Hause käme. Ich mußte ihr versprechen, bald, ganz bald wieder einmal nach Hause zu kommen.
Seit meiner Rückkehr aus Budapest hatte ich das Lesen fast aufgegeben. Nun suchte ich die alten Bücher hervor, begann, in ihnen zu blättern, begann, in ihnen zu lesen. Ich betrachtete die Sätze als das, was sie waren: Sätze, die Marya in Bälde lesen würde. Sätze, die uns über räumliche und zeitliche Distanz miteinander verbanden. Sätze, die einen Bund zwischen uns schlossen.
Ich betrank mich.
Dann schrieb ich zurück. Es war ein kurzer Brief.
Treppab, treppab, treppab, schrieb ich. Unten sind sie damit beschäftigt, den massigen Körper anzuwuchten. Zu dritt. Rasou, der Fleischer, faßt unter den Schultern an. Vater und Onkel Janka greifen nach je einem Bein. Es riecht nach Aprikosenschnaps. »Jetzt!« heißt das Kommando, und alle heben an.
Ich schob ein Buch in den Umschlag. Dann würde Marya nicht darauf warten müssen, bis ich nach Hause käme. Ich wußte nicht wann, ich wußte nicht, ob ich überhaupt noch einmal nach Hause kommen würde.
Wenige Tage später folgte ihr zweiter Brief. Sie teilte mir ihre Leseeindrücke mit. Und bat mich, mehr von Großpapa zu erzählen. Von Großmama. Von Vater. Von mir. Und von Budapest. Sie richtete mir Grüße aus. Zuerst dachte ich: Grüße von Großpapa. Aber dann las ich: von Ali.
Um Himmelswillen, Manja, schrieb ich zurück, sag Lesja nicht, daß und wie wir uns getroffen haben, sag ihr nicht, daß wir uns schreiben, sag ihr keine Grüße von mir zurück. Und lern Thomas Wolfe auswendig, daß ich ihn dir abhören kann, wenn wir uns das nächste Mal sehen.
Das beigelegte Buch war so dick, daß es schon auf dem Weg zur Post aus dem Umschlag ausbrach.
Ich bin doch nicht so dämlich, schrieb Marya, und erzähle meiner dämlichen Schwester von irgendetwas, das mir wirklich wichtig wäre. Das war ein Scherz, Wasja. Im übrigen träume ich von Budapest, fast jede Nacht. Die Stadt sieht immer aus wie der feuchte Traum eines Denkmalpflegers. Und du bist an meiner Seite.
Es grenzte an Verzweiflung, daß ich mich ausgerechnet jetzt und ausgerechnet in Marya zu verlieben begann. Doch aus jedem Brief, den sie mir, den ich ihr schrieb, aus jedem Satz, den ich ihr aus der Internatsordnung oder Großpapas Florilegium zitierte, aus jedem Vers, über den wir uns einig geworden waren, daß er besser nicht geschrieben und nicht gelesen hätte werden sollen, oder wenn, dann gleich millionenfach –: aus jedem Wort glaubte ich das Knacken von Kettengliedern herauszuhören.
Ich stellte mir eine wie auch immer geartete platonische Zuneigung vor. Ich würde daran leiden, gerade daran, aber es wäre ein anderes Leiden. Das rechte für jetzt. Es wäre ein Leiden, das nach Buße oder Aschermittwoch schmeckte. Etwas in mir sehnte sich nach Aschermittwoch und Reinheit. Meine Lebensressourcen bestanden jahrelang nur aus meiner Zähigkeit, und darin, daß ich mich habe aufsparen wollen für ein wärmeres, unverbrauchteres Leben und ein wahreres, unverfälschteres Gefühl. Ich wähnte mich von Marya merkwürdig erkannt, erkannte sie auf merkwürdige Weise, erkannte mich in ihr und ihren Worten auf merkwürdige Weise, eine ins Unendliche gespiegelte Merkwürdigkeit. Ich wollte mich aussöhnen, versöhnen, mit einem Gegenüber, das aushalten würde, was ich aushalten mußte, und ich fand dies, merkwürdigerweise, bei Marya, bei der Nierenkosterin, nicht bei den Gefährtinnen meiner Jugend. Vielleicht weil wir einander zu nah waren, Alezja und Tanja und ich. Im gleichen Sumpf geboren, im gleichen Sumpf aufgewachsen. Und so wenig wie möglich aneinander aufgerichtet.