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Erst war es ein Versuch, Wasja, dann ein Wagnis, dann ein Energiesprung. Und jetzt ist es nur noch die Frage: Wie konnte ich dich so lange nicht finden? Warum nur hat mir das Väterchen nie geraten, mich an dich zu halten?

Ich betrank mich. Ich hörte mit dem Trinken auf. Alle Figuren noch einmal auf Grundstellung, dachte ich, nochmal neu mit dem Spiel beginnen, und diesmal nicht dieselben Fehler begehen.

Zwischen Stanislau und mir waren Frauen nie ein Thema. Umso mehr war ich von mir selbst überrascht, als mich die Überfülle dieser Tage drängte, ihn aufzusuchen, ihm davon zu berichten. Zu berichten, daß ich in eine Beziehung mit einer 16jährigen schlidderte. Natürlich ohne einen Namen zu nennen. Keinen Vornamen, keinen Vatersnamen, keinen Familiennamen. Und daß ich kaum daran dachte, dies Schliddern noch abzubremsen.

Während ich erzählte, hielt Stanislau die Finger wie zum Gebet gefaltet, die Zeigefinger abgespreizt, aneinander gelegt, vor den Mund gelegt.

»Soll ich dazu jetzt etwas sagen, Wasja?«

»Sag was dazu.«

»Sie könnte deine Tochter sein!«

»Könnte, richtig. Ich könnte auch schon tot sein. Keiner weiß das besser als du.«

»Und was erwartest du von so einer Beziehung?«

»Daß sie mir Wasser in Wein wandelt. Mindestens.«

»Wein! Den brauchst du gar nicht mehr. Was du sagst, klingt so dermaßen besoffen.«

Wasser in Wein. Das war es wohl tatsächlich, was wir voneinander erwarteten. Die eine wollte mich retten, die andere wollte mich haben, weil mich ihre Schwester hatte, und die dritte, die wollte einen Helden, einen Ritter aus mir machen. Die göttliche Choreographie sah lauter komische Elemente für mein Leben vor, und erst ich habe versucht, dem ein wenig Würde und Tragik abzugewinnen.

Nur einen Tag später sprach mir Tanja auf die Mailbox: Daß wir dringend miteinander sprechen müßten, jetzt, es sei nicht aufzuschieben. Es klang nach Schlußmachen. Nach etwas Endgültigem.

Ich war bereit.

Wir trafen uns in einem Lokal im Regierungsviertel. Ich hätte sie kaum wiedererkannt, sie hatte sich das Haar aschblond gefärbt und zu einem strengen Medizinerinnen-Zopf gebunden, es kontrastierte scharf mit ihren schwarzen Fingernägeln. Aber es sah nicht billig aus. An ihr sah nie etwas billig aus.

Sie trank Wein, das erste Glas schüttete sie förmlich in sich hinein. Ich beschloß, ihr zu helfen, die Geschichte loszuwerden.

»Also: du möchtest mir sagen, daß es das war zwischen uns. Daß in der Beziehung ohnehin nichts mehr geht, daß du dein Leben endlich in ruhigere und geordnete Bahnen bringen möchtest, aber daß du mich nicht verlieren möchtest, daß wir durch soviel durchgegangen sind, gemeinsam, daß wir versuchen sollten, wieder das zu werden, was wir sind: Tante und Neffe. Und daß es auch für mich das Beste wäre, du siehst doch, wie ich an dem Zustand leide, aber nicht in der Lage bin, etwas dagegen zu unternehmen – «

»Du? Du leidest, Wasja?«

Ich trank von meinem Wein, Tatsiana fuhr sich über die Stirn, deutete ein Lächeln an.

»Tut mir leid, das war unnötig.«

»Kenne ich ihn wenigstens?«

»Ja.«

»Wirklich? Wer ist es?«

»Stas.«

Die Nachricht kam wie ein Schuß im Dunkeln. Ich war ein ahnungsloser und fassungsloser Trottel, jahrelang mit nichts anderem beschäftigt als damit, mir Alezja mit dem Leib vom Leib zu halten. Uns Alezja von der Seele zu halten. Um dieser Beziehung willen. Und dann fängt Tanja etwas mit meinem besten und ältesten Freund an.

Er aber verleugnete ihn und sprach. Nicht wieder diese Worte! Ich kämpfte gegen die Sätze, die er mir ins Internat mitgegeben hatte. Ich kämpfte damit, das Glas auszutrinken und es Tanja nicht ins Gesicht zu schütten. Ich hätte sie töten können in diesem Moment.

»Wie lange geht das schon?«

»Wir wollten es dir sagen. Längst schon. Ich war total sauer, daß er es bei der Bootsfahrt nicht hinbekommen hat. Er hat dann ja sogar Manja eingeladen, um einen Vorwand zu haben, mit dir nicht sprechen zu müssen.«

»Wie lange geht das schon?«

»Was soll das, Wasja? Was bringt es dir, wenn du das weißt?«

»So lange schon?«

»Zwei Jahre.«

»Zwei Jahre???«

»Wir haben nicht miteinander geschlafen.«

»Das tut mir leid. Für dich.«

Ich bestellte eine Karaffe Wodka. Dazu nur ein Glas.

»Ich habe ihm nichts erzählt von uns.«

»Ach ja? Und weshalb macht er dann ein Drama daraus, als müßte er bei mir um deine Hand anhalten?«

»Weil es auch so ist.«

»Das Drama?«

»Das Handanhalten.«

Tatsiana bat ums Wort, ohne Unterbrechung, sprudelte, daß es wohl niemanden sonst gebe, der so gut wie Stanislau ermessen könne, welche Bedeutung unsere Beziehung für uns beide habe. Ohne daß er etwas von ihrem sexuellen Charakter wisse. Er habe, sie habe, man habe mich nicht verletzen wollen. Er habe, sie habe, man habe mir nicht den Eindruck geben wollen, daß sie mich beide jetzt im Stich ließen. Wo es ohnehin nicht so recht voran wolle mit meinem Leben. Auch als Paar seien sie beide für mich da. An unserem Kontakt würde sich nichts Eigentliches ändern. Es sei denn, ich wünschte es. Aber da wir erwachsen waren, vernünftige Menschen…

»Ach komm, Tanja, erspar’s mir einfach, Appelle an meine Vernunft hatten wir doch schon. Ich geh ins Internat, wir müssen nicht diskutieren.«

»Wasja: Ich hab das seit Jahren mitgemacht, aber das geht nicht mehr. So geht das nicht mehr. Das macht alles kaputt.«

Sie stand abrupt auf, legte einige Geldscheine auf den Tisch und warf mir einen undeutbaren Blick zu, bevor sie das Lokal verließ. Ich staunte über den Abgang. Es wäre eigentlich meiner gewesen. Klaut sie mir jetzt also auch noch meine Szenen. Nicht nur den Freund.

Ich trank allein weiter. Wunderte mich über mich selbst. Ich war eifersüchtig. Aber nicht auf Stas. Sondern auf Tanja. Wenn ich an Marya dachte und daran, was mir bevorstehen würde, falls Alezja irgendwann einmal Wind von der Sache bekäme, wurde mir plötzlich klar, daß es wichtiger war, den Freund nicht an die Tante zu verlieren.

Um halb zwölf entfernte man mich aus dem Laden. Ich nahm ein Taxi, fuhr zu Stas, klingelte seine Vermieterin aus dem Bett, die mit der Polizei drohte, wenn ich nicht sofort abziehen würde. Ich machte es mir im Treppenhaus bequem, sah aber nach einer halben Stunde ein, daß es keinen Sinn hatte. Stanislau würde nicht rauskommen, um sich mit mir zu prügeln.

Auf der Schwelle der Haustür, die Tag und Nacht offenstand für Herumtreiber, wilde Katzen und Hunde, sah ich, daß mir Tanja eine SMS geschickt hatte.

stas ist noch in polen. laß ihn in ruhe. wenn du streiten willst, komm zu mir. sobald du wieder nüchtern bist. liebe, trotz allem: t.

Das Taxi war weg. Die letzte Metro auch. Ich hatte jede Menge Zeit, um auf dem Weg nach Hause nüchtern zu werden.

Der Tag hatte seine Unschuld verloren. Eine Ente querte, laut quakend, den Luftraum über uns. Zum wiederholten Male. Kein Gewässer weit und breit. Ich fragte mich, in welche geheimen Unternehmungen das Biest verwickelt war. Wenigstens war es kein wilder Schwan.

Marya schmiegte ihren Kopf in die Kuhle zwischen meiner rechten Schulter und meiner Brust. Das Gitter der Parkbank drückte gegen meinen Rücken. Egal. Ich würde meine, unsere Position nicht verändern, um keinen Preis. Ich inhalierte den Duft ihres Haars. Es roch nach frischem Teer, Pfeffer, Damaszenerrosen. Ich fragte mich, wie sie es geschafft hatte, den spätsommerlichen Staub und die Minsker Abgase von ihm fernzuhalten.