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Es war ein Donnerstag. Sie hätte in der Schule sein müssen, aber sie hatte darauf gedrängt, nach Minsk zu kommen. Alles in mir hatte darauf gedrängt, dem nachzugeben, auch wenn ich ihr am Telefon gesagt hatte:

»Geh in die Schule. Vergiß es.«

»Holst du mich vom Bahnhof ab?«

»Vergiß es, Manja.«

»Halb zwei.«

»Manja?«

»Ich komme, so oder so. Zur Not auch zu Fuß.«

»Ok. Halb zwei. Aber du kannst nicht bei mir übernachten.«

Bevor sie auflegte, hörte ich ihr Lachen in einem metallischen Echo ausklingen.

Wir fuhren vom Bahnhof aus quer durch die Stadt. Ich wußte noch immer nicht, ob es überhaupt so etwas wie eine Sehenswürdigkeiten-Tour gibt. Minsk ist keine Stadt der Sehnsucht. Marya bat mich, sie an die Orte zu bringen, die Budapest in irgendetwas ähnelten. Ich schlug die Kanalisation vor.

Wir landeten ziemlich weit im Westen, in einer städtischen Brache, verschwatzten, veralberten, verdösten den Abend.

»Was ist das eigentlich für ein seltsames Verhältnis zwischen dir und meinen Schwestern? Was treibt ihr all die Jahre?«

»Das ist eine ziemlich lange Geschichte, Manja.«

»Zu lang, um sie zu erzählen?«

»Wahrscheinlich.«

»Dann schreib sie auf. Schreib sie. Für mich.«

Wieder das oboenartige Husten an den Himmeln. Diesmal in entgegengesetzter Richtung. Und so hingen unsere Blicke, gerade in dem Moment, da ein erster Kuß fallen hätte können, unisono am Himmel, am lose zeternden Entenpostillon.

Wir fuhren zur Njamiha, stopften uns mit Bliny voll, bis uns schlecht wurde. Um uns her die Idiotie einer Pubertierenden-Selbstfindung mit Klingeltönen und MTV Russia. Was mochten sie gedacht haben? Daß da eine von ihnen mit ihrem Papa saß? Manja rollte mit den Augen, warf mir Blicke zu.

»Ich muß hier raus, das sind dieselben Idioten wie an meiner Schule«, sagte sie. Sie hakte ihre Hände in meinen Gürtel ein, zog mich vom Sitz, schob mich vor sich her, um mich schneller und effektiver wegtransportieren zu können. Vielleicht in eine Disco, dachte ich. Nein. In meine Wohnung. Ich hörte mich nicht einwilligen. Aber auch nicht Nein sagen.

Ich begann, Bücher für sie herauszusuchen. Wir lasen sie quer, stundenlang, lagen auf dem Boden vor dem Regal. Dann hakte Marya aufs neue ihre Hände in meinen Gürtel ein, diesmal von vorn. Sie versuchte, mich spielerisch vom Boden zu heben.

»Mein Gott, Wasja, was bist du schwer! Du schleppst noch immer das ganze Zeug mit dir rum, das ich dir aufgeladen habe, nicht wahr?«

»Ja. Das. Und ungefähr zwei Zentner Fett und Kohlehydrate.«

Ihre Pupillen wurden groß. Wieder war da dieser Raubtierblick.

»Was denkst du, Manja?«

»Laß mich dich jetzt befreien. Ich kann das.«

»Fast forward. Und was denkst du noch?«

»Ich denke, du denkst, daß ich jetzt gleich wieder sagen werde, daß ich mit dir schlafen möchte.«

»Möchtest du?«

»Denkst du das?«

Ich rollte mit den Augen, um ihrem Blick nicht weiter zu begegnen.

»Glaub mir, das möchtest du nicht«, sagte sie. Sie ahmte meinen tiefen Brummton nach. Begann zu grinsen.

»Hör auf zu grinsen, Manja.«

Sie grinste noch breiter.

»Und überhaupt: Sex wird überschätzt.«

Sie lachte, und die beiden Muttermale an ihrer Kehle lachten mit ihr.

»Das erste Mal ist sowieso immer Scheiße«, sagte ich. Ich zog sie näher an mich.

»Dann freue ich mich schon aufs zweite Mal, Wasja.«

Die Annäherung an Marya verlief stufenweise. Oder eher: häppchenweise, um meinem: »Ich suche deinen Mund« gerechter zu werden.

(Und wie ich ihn suchte! Und wie oft. Wie intensiv ihre Lippen nach dem schmeckten, was sie zuletzt gegessen hatte. Karottensalat. Bliny.)

Um vier Uhr hatten wir einander müde geküßt. Wir rochen nach Nacht. Marya schlief, angezogen, als müßte sie einen langen Winter überdauern, in altgeschichtlicher Begräbnisstellung (Höcker) auf meinem pastellfarbenen Schwedensofa. Sie hatte mich an den Rand gedrängt. Ich stützte mich auf den Ellenbogen, um sie besser betrachten zu können. Dann fielen auch mir die Augen zu. Ich lauschte dem Gang ihres Atems. In jedes Ausatmen duckte sich ein leiser, früher Vogelruf, mit solcher Regelmäßigkeit, daß es war, als hauchte aus Marya ein kündender Morgenvogel.

Wir sind zu jung nur

»Daß selbstgeschaffnes Grau’n mich quält, Ist Furcht des Neulings, dem die Übung fehlt: Wahrlich, wir sind zu jung nur.«
(Macbeth)

November verschwand im Dezember. Plötzlich war er weg.

Die zahllosen Briefe, die zwischen Marya und mir hin- und hergingen, hatten sicherlich Neueinstellungen bei der Post bewirkt. Ich schickte sie unter falschem Namen, damit unsere Haushexe (von der ich allerdings seit Monaten kein Lebenszeichen hatte) nichts erfuhr. Tarnte sie als Lehrmittelsammlungen. Nichts würde Lesja effektiver davon abhalten, einen Brief, der nicht an sie bestimmt war, zu öffnen, als die Befürchtung, daß sich darin Bildungsgüter befanden.

Doch ich mußte auch Manja gegenüber vorsichtig zu Werke gehen. Wären sie zu ausgeklügelt, würde sie vielleicht ahnen, daß sich hinter meinen Vorsichtsmaßnahmen noch etwas anderes verbarg als reine Abneigung gegen Alis Neugier. Zur Erklärung dessen war ich beim Aufschreiben meiner Geschichte für sie noch nicht gekommen.

Alle Figuren auf Grundstellung.

Ich hatte nicht vor, jemals so weit zu kommen.

In meinem Verhältnis mit Tatsiana und Stanislau war kurz vor dem Schachmatt gleichsam ein Wunder geschehen: Wir hatten uns auf ein Remis geeinigt. Ich glaubte verstanden zu haben, daß zwischen Liebe und der Einbildung, zu lieben, ein großer Unterschied war. Meine Einbildung bestand darin, eine Person zu lieben, die eine andere Zeit der Liebe hatte; eine Zeit, die ebenso vergangen war wie die Person, die sich selbst längst nicht mehr glich. Der Unterschied zwischen der Liebe zu einem Menschen und einer, die in Wahrheit Liebe ist zu bestimmten Stunden, zu einer bestimmten Zeit. (Und im letzten: Liebe zu uns selbst, wenn wir in diesen Stunden, in dieser Zeit, uns selbst durch den Blick der anderen wahrnehmen und lieben lernen.)

Ich liebte nicht mehr. Oder liebte nur noch die Zeit, in der ich Tanja geliebt hatte. Und ließ sie vergehen, diese Zeit.

Es war Dienstag vor Neujahr, als sie aus Brest anrief. Atemlos sprach sie davon, daß man Stanislau wegen »Beleidigung des Präsidenten« verhaftet hatte. Einer dieser Gummiparagraphen, der für Oppositionelle erlassen worden war, die zu schnell zu viel erreichten. So ziemlich auf alles anwendbar, angefangen mit offener Kritik in einem ausländischen Fernsehsender.

Stas hatte es also endlich geschafft, dachte ich. In seinen Kreisen war das so etwas wie ein Ritterschlag. Und wenn ich ehrlich war: auch für mich war es einer.

Ob wir etwas tun könnten, fragte ich Tanja, ob es ihm soweit gut gehe. Den Umständen entsprechend, sagte sie. Beim Grenzübertritt sei er in Brest von Geheimdienstleuten abgefangen und sofort verhört worden. Es gleiche einem Wunder, daß man ihn überhaupt telefonieren hatte lassen.

(Natürlich hatte er sie angerufen, und sie spricht auch schon wie er, dachte ich. Diese Regierung war ihr ein Jahrzehnt lang vollkommen egal gewesen. Und nun war sie über Nacht zur barbusigen Göttin der Freiheit mutiert, die das Volk zur Revolution anführte.)