Vor Donnerstag komme sie nicht zurück. Sie hatte Kontakt mit politischen Freunden dies- und jenseits der Grenze aufgenommen, wolle sehen, ob sich etwas zu Stas’ Gunsten ausrichten lasse. Alle hatten zugesagt und abgewiegelt, ins Gefängnis werde er wohl nicht müssen. Oder nicht lange. Ob ich in ihrer Wohnung einen Kontrollgang machen könne? Sie wisse nicht einmal, ob sie das Licht abgestellt habe, so übereilt sei sie aufgebrochen. Ich versprach, noch am selben Tag vorbeizuschauen, ich wußte, wo sie ihren Ersatzschlüssel aufbewahrte.
»Und, Wasja…?«
»Ja?«
»Laß dich nicht von Lesja ärgern. Kann sein, daß sie gerade da ist. Ich hab sie nicht ans Telefon bekommen, sonst hätte ich sie gebeten…«
Ich knurrte leise. Wie ein aufgescheuchter Köter.
»Und, Tanja…?«
»Ja?«
»Laß dich nicht auch noch verhaften. Und sag Stas, er soll verdammt nochmal die Ohren steifhalten. Schließlich hat er jetzt die Wette gewonnen.«
Ich nahm die nächste Metro, sah in Tanjas Wohnung nach dem Licht (aus), nach dem Gas (aus), nach Ali (aus). Ich war schon auf dem Weg nach draußen, als ich das Klappern hochhackiger Stiefel hörte, das sich die Treppe herauf rasch näherte.
Lesja erschrak nicht, als sie mich sah.
»Das trifft sich, Wasja. Zu dir wollte ich auch noch.«
»Schade, Ali, ich bin gerade gar nicht zuhause.«
Lesja schlug die Tür hinter sich zu. Ich sah, daß sie ihre Fingernägel schwarz lackiert trug, auf jedem thronte ein Swarovski-Stein. Dann stellte sie ihren Reisetrolley zwischen uns in den Korridor. Es sah aus wie ein Zauberbann. Hier kommst du nicht vorbei.
»Ein niedliches Ding, die kleine Manja.«
Instinktiv richtete ich mich auf, stemmte die Arme in die Seiten.
»Was willst du?«
»Ach komm, Wasja, das hatten wir doch schon alles. Ich hab weder Zeit noch Lust, das hier in die Länge zu ziehen. Manja war blöd genug, deine Briefe auf ihrem Bett zu verteilen.«
Die Steine aller zehn Finger begannen, vor meinen Augen zu tanzen. Von rechts nach links, von oben nach unten. Niemals hätte Manja die Briefe offen herumliegen lassen, Lesja hatte in den Sachen ihrer Schwester geschnüffelt, wieder einmal.
»Außerdem kotzt sie sich seit einigen Tagen die Seele aus dem Leib. Kleine Magengeschichte. Falls sie nicht schwanger ist.«
Langsam schob ich den Trolley mit dem Fuß gegen die Wand.
»Hm, Wasja? Wie wird die Kleine wohl darauf reagieren, wenn sie erfährt, daß du ihre Schwestern gefickt hast, der Reihe nach, wie die Orgelpfeifen.«
Sie pfiff ein Glissando abwärts. Ich packte sie an der linken Schulter, wirbelte sie herum, daß sie mit dem Gesicht gegen die Korridorwand prallte. Hörte einen Knochen knacken. Mit dem linken Arm quetschte ich ihren Oberkörper gegen die Mauer, mit dem rechten griff ich in ihr Haar.
»Deine Lieblingsstellung«, preßte Lesja zwischen zwei Atemzügen hervor, »der Rock hat einen Klettverschluß, einfach nur dran ziehen.«
Ich drückte fester.
»Na mach schon«, zischte sie.
Ich drückte noch einmal zu. Der Trolley schwankte und fiel zu Boden. Du gräbst dir dein eigenes Grab, dachte ich.
Ich wußte nicht, wen von uns ich damit meinte. Ich hatte plötzlich Lust, Alezja die Haare herauszureißen, einzeln. Ihr alle Kraft zu nehmen. Dann begann ich die Aura zu spüren. Aber schon im nächsten Moment war sie wieder weg und eine merkwürdige Kühle in meinem Kopf. Ich ließ von Alezja ab, schüttelte meine Hände aus. Sie waren rot vor Anstrengung.
Lesja drehte sich allmählich von der Wand weg. Sie verzog den Mund zu einem Grinsen.
»Laß deine Finger von Manja«, sagte sie leise, »sonst stecke ich ihr alles. Und Tanja werde ich auch davon erzählen. Von der Kleinen, und von uns beiden.«
Ich ging zur Tür.
»Du hast dich schon vor langem entschieden: keine von uns. Keine von uns dreien. Also halt dich dran.«
Ich zog den Ersatzschlüssel aus dem Schloß, stieg langsam die Treppen hinab. Lesja rief hinter mir her.
»Ich geh noch aus. Aber vielleicht magst du später zu mir kommen. Hm, Wasja, magst du das? Kleiner Fick auf die alten Zeiten, im Schlafzimmer von Schwesterchen? Das Vorspiel haben wir ja schon erledigt. Oder stehst du jetzt auf kleine Mädchen, Wasja?«
Ich ging in den Keller, legte den Schlüssel zurück. Alles an seinen angestammten Platz. Zurück auf Grundstellung. Ich nahm die Metro zur Njamiha.
Verehrte Passagiere! Seien Sie freundlich zueinander! Bieten Sie Ihren Platz Frauen mit Kindern, Pensionisten und Helden des Zweiten Weltkriegs an!
Die Metro war voll, wie immer um diese Uhrzeit, wie immer, um jede Uhrzeit. Ich wußte nur, ich würde Marya nicht verlieren wollen. Mein Nebenmann drückte mir seinen Ellenbogen in den Nacken. Nicht verlieren wollen, was zwischen uns geschehen war. Er war mehr als einen Kopf größer als ich, nahm einen Raum ein wie einer dieser Bagatyri aus den alten Sagen, die barhäuptig ganze Tatarenheere in die Flucht schlugen und Hexen den Garaus machten. Egal, was jetzt geschah: Ich würde sie nicht verlieren wollen.
Verehrte Passagiere! Seien Sie freundlich zueinander!
Ich hatte mich nicht jahrelang von Alezja erpressen lassen, hatte die Beziehung mit Tanja nicht leichtfertig aufs Spiel gesetzt, um nun doch alles preiszugeben. Mich. Uns.
Wie wird Manja darauf reagieren, hm, Wasja? Wie reagiert jemand, der davon träumt, sich von mir durch eine mittelalterliche Stadt, in ein Schloß führen zu lassen, wie reagiert so jemand wohl, hm, Wasja?
Verehrte Passagiere! Verehrte Passagiere!
Ich hörte Gesualdo, »O vos omnes«. An der letzten Station war ein klassikliebender Mittzwanziger mit lichtem Haupthaar zugestiegen. Aus seinen Ohrstöpseln dröhnten die Tenebrae-Responsorien, die Höhen ekelhaft zerfetzt. Ich erkannte sie schon nach den ersten Tönen. Sofort war sie wieder da, meine kaum zu erklärende Angst vor kontagiöser Magie, wenn ich diese Musik höre. Vielleicht hatte Gesualdo die Melodieführung schon im Kopf, als er seine Frau, ihren Liebhaber und die kleine Tochter tötete.
Verehrte Passagiere! Marya wollte mich befreien. Die wilden Schwäne. Es war wie im Märchen. Nur daß ich nicht das willenlose Brüderlein war. Und daß Schwesterlein und Brüderlein auch nicht daran gedacht hatten, die Hexe und ihr Viehzeug auf immer loszuwerden. Ein Fehler. Ein großer Fehler!
Verehrte Passagiere! Seien Sie freundlich zueinander!
Das Kind, das mit seiner Mutter zugestiegen war, sah mich mit großen Augen an. Es schüttelte den Kopf. Die Mutter sprach besänftigend auf das Kleine ein, doch unablässig schüttelte es den Kopf, sah mich an, schüttelte den Kopf, sah mich an. In diesem Moment wurde mir bewußt, daß ich töten würde. Daß ich ein Leben auslöschen würde, nicht nur einen Leib. Oder Fleisch. Fleisch, das sich in meines verkrallt hatte. Und verbissen. Nicht das allein. Sondern ein Leben. Ich würde jahrelang versuchen, es mit einem neuen Namen zu belegen, aber schließlich würde ich doch daran scheitern. Mord, würde ich sagen müssen.
Verehrte Passagiere!
Mutter und Kind stiegen aus. Und ich spürte, wie das Leben in mir zu betteln begann. Mein Leben. Es würde so lange betteln, bis ich in Kauf nähme, vor mir zwei blasse graue Quader zu sehen und in ihrer Mitte die Tag für Tag neu gezählte Menge rostiger Stäbe. Sollte es schiefgehen. Als die Gitterstäbe sich auflösten, sah ich mich selbst vor Alezja in Ketten liegen. Die Baba Jaga. Wie sie mich gehetzt hat. Wie sie mich geritten hat. Mein Fleisch. Mich hatte sie nie gemeint. Immer nur ihre Schwester. Alezja war ein Machtmensch. Ich mußte handeln wie ein Machtmensch, wenn ich sie besiegen wollte. O vos omnes, qui transitis per viam, attendite, et videte si est dolor similis sicut dolor meus – Seht, ob es einen Schmerz gibt, dem meinen gleich. Die Hexe sollte verschwinden. Einfach nur verschwinden. Aus meinem Leben. Aus Manjas Leben. Aus dem Leben.