Verehrte Passagiere! Seien Sie freundlich zueinander! Bieten Sie Ihren Platz Helden an!
Die Worte verschwammen. Als ich an der Njamiha ausstieg, war es vierzehn Uhr.
Ich habe Draht gekauft. Draht zum Überbrücken der Sicherung.
Und einen Pürierstab, dieselbe Marke, dasselbe Modell, das mein Tantchen dazu benutzt, um ihren Tag mit einem Bananen-Shake zu beginnen.
Es würde nicht schiefgehen. Tatsiana hatte sich oft genug beim Hausverwalter beschwert über die Sicherungen, die ohne ersichtlichen Grund heraussprangen, und die wieder einzuschrauben ihr auf Dauer zu mühselig war. Selbst der Hausverwalter würde vermuten, daß sie es war, die in einem Anfall von Unzufriedenheit mit seinen professionellen Fähigkeiten den Draht angebracht haben mußte. Schließlich konnte Tanja nicht damit rechnen, daß der Pürierstab hinüber war. Alezjas vermaledeite Sucht nach Bananen!
Weil die Metro voll war, ging ich in ein Schnellrestaurant und stopfte mich mit Bliny voll, bis mir schlecht wurde. Dann setzte ich mich zurück an meinen Tisch und machte mich daran, den Pürierstab mit meinem Taschenmesser aufzuschrauben.
Es war ein Spiel mit Draht. Von hier aus besehen, war alles eine molekulare Winzigkeit, eine Winzigkeit, an der ich manipulierte. Nicht der Rede wert. Über kurz oder lang hätte es Alezja sogar zuhause passieren können. Wenn ich an Großpapas Reparaturarbeiten am Küchenlicht dachte!
Es begann zu regnen, zu schneien, zu regnen. Ich ging zu Fuß bis zur Station Maladzjozhnaja, den Kragen meines Hemds hochgeschlagen. Zuhause habe ich Kaffee gekocht, habe mich hingesetzt, bin wieder aufgestanden. Ich würde schnell handeln müssen, bevor Tatsiana zurückkäme. Bevor ich mir alles anders überlegte. Ich hatte zwei Tage. Bis Donnerstag. Ich würde es heute abend machen. Lesja würde die Wohnung gegen 20 Uhr verlassen und nicht vor vier Uhr morgens heimkommen. Und ich würde, kaum daß die Spielshows begonnen hätten, wieder auf der Straße sein.
Den Sekundenzeiger der Uhr vor Augen verlangsamte sich alles vor mir. Meine Hände glitten im Zeitlupentempo über mein Werkzeug. Rechts von mir: das Messer, die Zange.
Die leitenden Teile im Inneren des Pürierstabs so mit dem Einschalter zu verbinden, daß auf dem Knopf Strom fließt, ist ein Leichtes. Strom durch den Knopf durchzuleiten, ist ein Leichtes, man muß nur ein wenig mit dem Messer an seiner billigen Plastikabdeckung kratzen.
Minsk ist keine Stadt der Sehnsucht, hörte ich Marya sagen.
Nein, das ist es nicht. Es ist nicht Moskau, nicht Petersburg, nicht Lissabon, Florenz, Rom, Paris, London, Brügge, Rio & Co., dies durch und durch verblödete Behaglichkeits-Repertoire und -Reservoir von Weltschmerz-Repositorien und -Suppositorien einer erbarmenswerten Literatur. Minsk ist keine beschissene Stadt der Sehnsucht. Deshalb liegt rechts von mir: das Messer, die Zange. Und zu meiner Linken: Draht, Draht zu meiner Linken. Die Elektrokution wird wie ein bedauerlicher, wie ein bescheuerter Unfall wirken. Alezja liebt es, nach Asche zu riechen. Und ich habe ihn einmal geliebt, den Geruch von Asche an ihr, in ihrem Haar.
Um 20 Uhr verließ ich meine Wohnung.
Wie lang ein Tag sein kann.
Und wie kurz, wenn es der letzte ist.
Begleitet vom Bellen der blöden Töle aus dem vierten Stock, die ihr Herrchen am Ton der Auto-Zentralverriegelung erkennt, zog ich Tatsianas Haustür um 21:27 Uhr hinter mir zu. Auch wenn es nichts bringt. Das Türschloß schließt nicht. Das Haus steht immer offen.
Zurück in meiner Wohnung war es saukalt. Ich drehte die Heizung höher. Die Gasleitung summte. Ich öffnete den Verschluß der ersten Wodkaflasche.
Minsk ist eine Stadt der Sehnsucht.
Ein auf Vibration geschaltetes Handy tanzt wie verrückt auf einem Glastisch, der ganze Tisch vibriert. Niemand geht ran. Niemand scheint zuhause zu sein.
In der Nacht träumte ich von Sex mit einem seltsamen Zwitterwesen, halb Frau, halb Tier. Sie ritt mich, aber ich kam und kam nicht. Ich erwachte mit steifem Glied.
Ich lag im Bett. Der Restalkohol ließ mich wie in einer Retorte eingesperrt atmen. Mein Leben in vitro.
Ich bin nicht da, einfach nicht da.
Es war kurz vor halb neun, als ich aufstand. Vor dem Spiegel fuhr ich mir mit den Handinnenflächen über die Wangen, hinterließ rote Flecken. Auf der Hand. Im Gesicht. Ich trank einen Schluck Wodka. Gegen den Kater. »Strafschnaps« nannte ihn Gábor, den ersten Schluck am nächsten Morgen. Ich betätigte die Schnellwahl auf dem Handy.
Sie haben – zwei – Nachrichten auf Ihrer Mailbox.
Erste Nachricht. Gestern, zweiundzwanzig Uhr zwölf.
Ahoi, Wasja, bin doch schon wieder zurück. Ich kann für Stas nichts tun, die werden ihn erstmal dabehalten, wenigstens einen Monat lang. Er scheint total entspannt damit, ich bin – ich weiß gar nicht, was ich bin, ich habe Angst, ich bin genervt, ich… Ja, und Brest ist sauteuer, noch eine Nacht hätte ich mir gar nicht leisten können. Ich melde mich morgen nochmal. Muß jetzt unbedingt schlafen. Oh Scheiße, ich seh gerade: Lesjas Röcke liegen hier rum. Hoffentlich kommt sie nicht vor morgen mittag zurück. Nacht, Wasja, Kuß.
Ich starrte auf das Display. Spürte, wie sich die Haare an meinem Arm aufrichteten. Meine Hand zitterte leise, als ich die Taste drückte, die zur nächsten Nachricht springen ließ.
Zweite Nachricht. Heute, sieben Uhr vierunddreißig.
Scheiße, Wasja. Tanja liegt im Krankenhaus. Künstliches Koma. Sie sagen, sie hat nur überlebt, weil sie Rechtshänderin ist. Sie sagen, daß das aber wahrscheinlich nichts hilft, weil ihr Gehirn kaputt ist. Ich hab sie gefunden heute morgen. Ich hab sie gefunden. Sie hat Bananen für mich püriert, Wasja.
Alezjas Stimme pausierte. Ich hörte das Schnappen eines Metallfeuerzeugs. Einatmen. Husten.
Ich weiß, daß du das warst, du Drecksau. Ich weiß nicht genau, wie du das gemacht hast, ich weiß nicht einmal, wann du es gemacht hast, aber ich weiß, daß du das warst. Und ich weiß, daß das für mich bestimmt war. Das hättest du nicht tun dürfen, Wasja. Ich geh zur Polizei, ich erzähl denen, daß du uns die ganzen Jahre mißbraucht hast, sogar die Kleine, und Tanja getötet hast, um alles zu vertuschen. Ich hol Manja, und dann geh ich –
Ich unterbrach die Nachricht, wählte die Nummer von Zuhause. Marya ging nicht ans Telefon. Ich weiß, daß sie es in den Ferien immer aussteckt. Sie steht nie vor Mittag auf.
Der erste Zug des Tages nach Hrodna würde in vierzig Minuten fahren. Wenn ich mir bei der Schaffnerin ein Billet kaufte, könnte ich es schaffen. Mein Seesack steht immer gepackt im Schrank. »Survival-Pack« hat Tanja ihn genannt. Beim Rausgehen verhedderte sich eine seiner Tragschlaufen an der Türklinke, zog die Tür vor mir zu, zog mich wieder in die Wohnung hinein. Ich warf einen letzten Blick rundum. Ich lauschte.
Leise summte die Gasleitung.
Fliegeralarm
Ein Rettungswagen raste über die Straßenkreuzung, ich enteilte in eine Unterführung, das Geheul der Sirene schwoll in dem riesigen Hallraum unaufhörlich an, vermischte sich mit seinem Echo zu einem lang anhaltenden Ton, Fliegeralarm, ohrenbetäubend laut. Ich dachte an das Beatmungszimmer, in dem Tanja aufgebahrt lag. An die Intubation. An die ganzen medizinischen Geräte, von denen ihr Leben abhing. Daran, daß ihr Gehirn kaputt war. Zum ersten Mal wünschte sich Alezja wohl nicht, das zu haben, was Tatsiana hatte. Hätte ich doch auf mein Handy gesehen auf der Fahrt nach Hause. Hätte ich bloß die Mailbox abgehört. Gestern abend noch.