Ich drängte vorwärts, verfluchte mich dafür, daß ich kein Auto mehr hatte.
Am Bahnsteig war von Alezja nichts zu sehen. Ich suchte den ganzen Zug nach ihr ab. Er war überfüllt, zwei Tage vor Silvester wollten sie alle nach Hause, in den Westen. Nichts. Keine Spur von ihr.
Es war der erste Zug, der heute nach Hrodna ging. Ich hatte noch immer gute Chancen, vor ihr zuhause anzukommen. Zigmal versuchte ich, von unterwegs Marya zu erreichen, aber meist befand ich mich in einem Funkloch, und wenn nicht, ging niemand ran.
Ich konzentrierte mich auf Manja. Ich ermunterte mich, daß es funktionieren würde, begann mir ein Leben mit ihr auszumalen. Wenigstens für einige Zeit. Wir gehen nach Budapest, würde ich ihr sagen. Du weißt doch: Wenn es einer hinkriegt, dann ich. Wir gehen zusammen, aber wir müssen es sofort tun, jetzt sofort, hörst du, Manja? Laß uns hingehen, wo wir herkommen.
Der Zug hatte Verspätung, in Hrodna erwischte ich den Bus ins Städtchen nicht, ich mußte in der Bahnhofshalle auf den nächsten warten. Mir gegenüber saß ein Pensionist. Er schob sich mühevoll die Vorderzahnprothese in den Mund, justierte sie, nahm sie wieder heraus, und immer so weiter. Nach einer halben Stunde setzte ich mich auf einen anderen Platz. Über mir hing eine Schmeißfliege in den Fetzen eines Spinnennetzes. Sie war umsonst gestorben, Essen sollte man nicht verderben lassen, aber hier war weit und breit keine Spinne mehr, alles erfroren, was lebendig war.
Ich lauerte auf den nächsten Zug, der aus Minsk kam, aber auch in dem saß Alezja nicht.
Das Wetter schlug um, es begann zu schneien, im Bus saßen wir wie erstarrt. An der Station angekommen, schlang ich den knielangen Wintermantel enger um meinen Leib, zog den Schal über die Nase, die Wollmütze in die Stirn, daß nur ein schmaler Schlitz für meine Augen offen blieb. Die Hände barg ich in den Manteltaschen, schob den Seesack über den Kopf hinweg auf die rechte Schulter, sein Gurt führte wie eine grüne Schärpe zur Hüfte, lag über der Brust fest an und hielt die Enden des Mantels, der keine Knöpfe mehr hatte, zusammen. Einen Moment betrachtete ich mein Bild im blau schimmernden Fensterglas eines vorüberfahrenden Autos. Ich sah aus wie ein Mitglied der neuen Antiterroreinheiten. Die wenigen Gestalten im Städtchen, die mir und meinen durch den Schal ausgestoßenen Atemwolken entgegenkamen, machten einen weiten Bogen um mich.
Ich hatte keinen Schlüssel mehr für das Haus. Die Tür war abgesperrt, ich klopfte, ich rief Manja, niemand öffnete. Dann sah ich, daß sogar das Kellerfenster, durch das Großpapa und Vater ein Kabel gezogen hatten, um die ostdeutsche Gefriertruhe anzuschließen, verrammelt war. Ich konnte also nicht einmal durch den Keller einsteigen.
Im Augenwinkel nahm ich eine Bewegung hinter einem Fenster bei den Nachbarn wahr. Ich ging hinüber, pochte hart gegen die Tür. Die Milinkiewitsch lugte heraus, öffnete, aber nur einen Spaltbreit, sie behielt mich im Auge und den Türknopf in der Hand. Ich sagte, ich sei mit Marya verabredet, aber sie öffne nicht. Dann kam ihr Mann hinzu, ein alter Griesgram, brummte, ja, sie hätten die Kleine heute morgen wachgeklopft, schon vor halb acht, warum auch immer, sagten die beiden, sie hätten doch jetzt ein Telefon, aber Alezja habe darauf bestanden, daß sie es tun. Das Telefongespräch zwischen den beiden sei kurz gewesen. Ich fragte, ob Manja mit Gepäck weggegangen sei, erhielt von beiden aber nur ein Achselzucken. Man habe niemanden gesehen, niemand habe etwas gesehen, und jetzt müßten sie wieder an die Arbeit. Sie knallten mir die Tür vor der Nase zu.
Ich blieb in der Nähe des Hauses. Den ganzen Tag. Hin und wieder wählte ich die Nummer. Das Telefon mußte noch immer ausgestellt sein, sonst hätte ich seinen penetranten Dreiklang hören müssen. Dann schaltete ich die Rufnummernunterdrückung an meinem Handy ein und versuchte es in Tatsianas Wohnung. Nach dreißigmaligem Läuten unterbrach mich die Telefongesellschaft.
Schweiß. Trotz der Kälte klebte mir der Stoff am Rücken, am Gesäß, straffte sich um die Schenkel. Der Schnee ging wieder in Regen über. Spülte den Staub in die Straßen. Teer und Staub. Teerstaub. Den schwarzen Dunst.
Am späten Abend gab ich auf. Ich nahm den letzten Bus nach Hrodna, suchte mir ein Hotel. Eines, in dem ich nie zuvor mit Tanja und Lesja war. Das Risiko wäre einfach zu groß gewesen, daß mich der Portier oder eine der Etagendamen erkannt hätte.
Das Zimmer: vier mal vier Meter, hohe Wände, braunes Resopal, gehobene Unterklasse. Von der Decke baumelnd: eine Weinlaubzierat tragende weiße Lampe, die Aufhängeschnur fingerdick staubbedeckt. Auf den Tapeten Stechmückenreste, Blutkleister, gleichmäßig verteilt, ab 15 Zentimeter südlich der Decke, schwerpunktmäßig ecknah. Ein Doppelbett, klamm, drei schmale Fenster auf die Straße, schmutzigbraune Vorhänge, engmaschige Gardinen. Irgendjemand mußte hier einmal im Zimmer gefrühstückt haben. Ausgiebig. Brotkrumen zwischen Bettgestell und Boden. Ein Bad, so groß und so leer, daß es zum Tanzen einlud.
Ich stellte meinen Seesack ab, sah in den Schrank, wie ich es immer zu tun pflege, fühlte mich beobachtet, wie immer, putzte mir die Zähne mit Mineralwasser, sorgte für einen kurzen Durchzug zwischen Fenster eins und Fenster drei, und fügte eine Stechmückenspur auf der Tapete hinzu (wie hatte das Biest bis jetzt überleben können?). Ich streckte mich auf dem Bett aus, quer über das Bett, trank einen Schnaps, der das Gefühl, beobachtet zu werden, nur verstärkte. Ich dachte an Marya. An Großpapa. Trank noch einen Schnaps und sehnte das Tageslicht herbei. Ich schlief erst ein, nachdem ich die zwei Kissen und zwei Decken hinter und über mir plaziert hatte, zwischen Bett und Wand, und sicher gehen konnte, daß mir keine Spinne übers Gesicht laufen würde. Als ob das noch etwas zu sagen, als ob mein gebrochenes Verhältnis zu Kreatürlichem hier und jetzt in meinem Leben noch einer Geste bedurft hätte.
Am nächsten Morgen wollte ich den ersten Bus ins Städtchen nehmen, noch einmal versuchen, ob ich Marya erreichen könnte. Ich sah, daß ich einen Anruf auf der Mailbox hatte. Es war Manjas verweinte Stimme. Sie war in Minsk. Bei Alezja.
Meine dämliche Schwester sagt, du hättest das getan. Du hättest Tanja umbringen wollen. Und sie sagt, du hättest das meinetwegen getan. Aber das stimmt doch nicht. Weshalb hättest du das tun sollen, Wasja? Sag, daß das nicht stimmt. Geh ran und sag’s mir, verdammt nochmal, Wasja.
Ich hörte die Nachricht dreimal ab. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß sie in Tatsianas Wohnung zurückgegangen waren. Also versuchte ich, anhand der Hintergrundgeräusche zu erahnen, wo die beiden steckten. Fehlanzeige. In der Anrufliste wurde die Nummer nicht angezeigt.
Weshalb war ich nicht auf den Gedanken gekommen, ihr ein Handy zu schenken? Es ist alles ganz anders, würde ich gesagt haben, hör mich an, Manja. Wir treffen uns in der Weststadt, bei unserem Entenpostillon. Sag deiner Schwester nichts. Es ist alles ganz anders als sie behauptet. Vertrau mir. In vier Stunden kann ich da sein. Du bist der wichtigste Mensch für mich. Der einzige, Manja.
Eine Finte. Alezja hatte mich klassisch ausgespielt. Ich hielt es für einen Impuls, aber sie hatte mir absichtlich auf die Mailbox gesprochen. Sie kennt mich gut genug, um zu wissen, daß ich sofort nach Hause fahren würde, um zu Marya zu kommen. Sie mußte sie in den ersten Zug von Hrodna nach Minsk befohlen haben. Wir waren aneinander vorbeigefahren.
Ich brauchte einen neuen Plan. Und ich wußte nicht, ob Manja in ihm noch eine Rolle spielte.
Ich fuhr zurück nach Minsk, wußte, wo ich mir Pässe und Ausreisestempel verschaffen konnte. Bei mir waren noch 6 000 Dollar.
Am Fahrkartenschalter saß eine Altgediente in Uniform, ihre übergroße Brust lag auf einer Tischplatte, stützte den ganzen Körper ab. Ich verlangte zwei Billets nach Warschau für den nächsten Tag. Sicherheitshalber reservierte ich das ganze Schlafwagenabteil für mich allein. Falls ich kein Ausreisevisum auftreiben würde, könnten Manja und ich immer noch versuchen, uns in den Klappbänken zu verkriechen. Und darauf hoffen, daß es die Zöllner und Grenzer in der besoffenen Silvesternacht nicht so genau nehmen würden. Einmal in Polen würden wir es schon irgendwie schaffen, nach Ungarn zu kommen.