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Wie laut Minsk über Nacht geworden war! Aus allen Läden wummerten die Bässe auf den Bürgersteig. Das Summen synthetischer Hi-Hats. Die verzweifelten Geräusche des Warenkapitalismus. Ich nahm es als Abhärtung für Budapest.

Grüppchenweise kamen mir Polizisten entgegen. Ich drückte mich in Hauseingänge. Wußte ja nicht, ob man schon nach mir suchte.

Als nächstes versuchte ich, Kontakt mit meinem alten Verbindungsmann aufzunehmen. Er war wie ich Internatszögling, kurze Zeit vor mir abgegangen. Sjarhej hatte ihn empfohlen. Er hatte mir 1991 das Visum verschafft.

Ich hatte Glück, fand ihn noch immer am selben Ort. Sogar in derselben Körperhaltung wie damals: lässig hingelümmelt auf dem Schreibtischstuhl, mit übereinandergeschlagenen Beinen, das darüberliegende wippte im Takt eines russischen Stampfrhythmus aus dem Radio. Dazu seine Stimme. Immer ein wenig zu laut. Und immer auf dem Sprung. Einer dieser Menschen, von denen man gar nicht möchte, daß sie sich Zeit für einen nehmen, weil man Angst hat, sie ihnen eigentlich zu stehlen.

Offiziell verkaufte er Krankenversicherungen für Ausländer.

»Du? Was willst du hier?«

»Eine Lebensversicherung.«

»Tsts. Nicht mein Metier.«

»Hast du noch deine alten Verbindungen?«

»Kommt drauf an.«

»Zwei Ausreisevisa. Und zwei Pässe.«

Ich reichte ihm einen Zettel mit den Daten.

»Puh«, machte er und zog die Mundwinkel nach unten, »wird nicht ganz billig.«

»4 000 Dollar.«

Er nickte beifällig.

»Bis wann?«

»Morgen.«

»Unmöglich.«

»5 000.«

»Ich weiß nicht, wie wir an die Stempel kommen sollen. Morgen ist Silvester.«

»Fünf – tau – send Dollar!«

»Ich schau, was ich machen kann.«

»Mein Zug geht um 18:50 Uhr.«

»Halbe Stunde vorher. Neben dem Bahnhofsgebäude sind zwei Scheißhäuser für Gleisarbeiter. Die haben die Kameras so verstellt, daß die Videoüberwachung nicht zwischen sie reicht.«

Ich nickte. Ich bekam Lust, eine Zigarette zu rauchen. Und meinen Namen auf den Oktoberplatz zu kotzen.

»Hast du mal wieder was von Sjarozha gehört?« fragte ich.

»Sag bloß, das weißt du gar nicht?«

Er drehte sich auf seinem Stuhl einmal um die eigene Achse. Dann deutete er nach oben.

»Ist hochgegangen. Vor fast zehn Jahren. Aufgefahren zu den Altvorderen. Tretmine in Bosnien, besoffen beim Räumkommando. Kennst doch den alten Witz, fragt der Frischling: ›Herr Kommandant, was machen wir, wenn wir auf eine Mine treten?‹ – ›Normale Vorgehensweise wäre, hundert Meter in die Luft zu springen und sich dann über eine möglichst große Fläche verteilen.‹«

Sein Gesicht zeigte kaum Veränderung, lediglich eine Lauerhaltung. Ich nickte. Ein Grinsen wollte ich mir nicht abringen. Als ich gehen wollte, packte er mich am Ärmel.

»Noch eins: wie alt bist du?«

»Wieso?«

»Na das Geburtsdatum. Im Paß. Auf dem Visum.«

»Dreißig. Ich bin dreißig Jahre alt.«

»Dreißig? Du siehst jünger aus. Verdammt viel jünger. Nie richtig gelebt, was?«

Ich machte meinen Mantel los und ging zur Tür.

»Wir schreiben 25«, feixte er mir hinterher, »das fällt weniger auf.«

Der Nachmittag brach an. Ich fand ein Hotel, dann ein Internetcafé. Die ungarische Telefongesellschaft hatte die Kontaktdaten ihrer Kunden online gestellt. Ich suchte nach Adresse und Nummer von Gábor. Und tatsächlich wurde ich fündig. Ich erkannte Straße und Hausnummer wieder. Entweder lebte er noch immer bei Großcousine Klára, oder er hatte sie endlich beerbt.

Es klingelte zweimal. Dann hörte ich zum ersten Mal seit zehn Jahren das Timbre seiner Stimme.

»Ich glaub’s ja nicht, der Russe!«

»Ich bin Weißrusse.«

»Der Weißrusse! Ich hätte dein Organ nicht wiedererkannt. Alter, klingt dein Ungarisch scheiße!«

»Danke, deines auch.«

»Wie geht’s dir? Was treibst du? Das ist keine ungarische Telefonnummer, die ich da sehe, oder?«

»Das ist ja auch keine deutsche, die ich da sehe, oder? Hast du deine kleine Deutsche nicht geheiratet?«

»Welche Deutsche?«

Wir schwiegen einen Moment.

»Ach die? Totale Pleite, ich bin nie aus Ungarn weg. Hab seit einiger Zeit einen Job. Und Kinder.«

»Gratuliere.«

»Zwei, ein Mädchen und ein Junge.«

»Tadellose Arbeit, Gábor.«

Ich ahnte es: Nirgendwo sonst sind die Lebensentwürfe, die in den Kitsch flüchten, so zahlreich wie in den Hauptstädten.

»Hör mal, ich müßte für einige Zeit in Budapest unterkriechen. Mit meiner neuen Freundin. Klärchens Haus ist doch groß genug für – gibt es eigentlich eine Frau zu den Kindern?«

»Du kommst hierher? Wann?«

»Übermorgen.«

»Übermorgen. Ach du Scheiße! Echt jetzt, Waschi, das ist ein bißchen kurzfristig. Am Neujahrstag sind wir immer bei meinen Schwiegereltern.«

»Ist ok, einen oder zwei Tage können wir ins Hotel. Gibt es noch die Spelunke, in der du gearbeitet hast?«

»Hm, weißt du, Alter, wir wollten wegfahren für ein paar Tage. Bis Dreikönig.«

»Na bestens, da stören wir euch nicht.«

Ich hörte, wie sich Gábor lautstark über die Bartstoppeln kratzte.

»Ich müßte erst meine Frau fragen.«

»Gábor, ich würde dich nicht anrufen, wenn es nicht wichtig wäre. Es ist aber wichtig. Superwichtig. Von weltbewegender Wichtigkeit. Quasi eine Invasion von Außerirdischen in meinem Heimatland.«

Ich hörte tiefes Einatmen, er zischte etwas nach hinten, zwei Silben, einen Kindernamen, Sásá.

»Na, jetzt komm erst mal, Alter, dann sehen wir weiter.« Ich legte auf. Mehr war nicht zu wollen. Nicht unter diesen Umständen. Nicht jetzt, nicht heute, nicht hier.

Seit gestern hatte ich nichts mehr gegessen. Ich ging in einen Bäckerladen, einen Kaffeeausschank nach westlichem Vorbild. Rechts und links eingerahmt von Sträuchern, in denen Vögel tobten. Ich kaufte zwei Bubliki, aß sie vor dem Laden. Dazu trank ich aus einem Plastikbecher schwarzen Kaffee, der nach Seife schmeckte. Die Winterschwalben hörten wie zu einer verabredeten Zeit auf zu toben. Die Stille um mich her kam so unerwartet und war so vollkommen, daß die Vorübergehenden mich mißtrauisch musterten.

Ich rief in Tanjas Wohnung an. Es klingelte durch. Dreißigmal. Schließlich wurde die Leitung unterbrochen. Ich schaltete das Handy ab, dachte daran, daß sie mich vielleicht zu orten versuchten. Mit der Metro fuhr ich zu Tatsianas Haus. Klingelte. Ich hatte nicht ernsthaft damit gerechnet, daß mir jemand öffnen würde. Ich hatte auch keine Idee, was ich tun würde, wenn Lesja und Manja auftauchten. Ich rechnete wohl nicht mehr damit. Auch nicht mehr damit, dem, was mir bevorstand, noch entkommen zu können. Ich wollte Marya wiedersehen, sie sehen, das war alles. Sie aus den Fängen von Baba Jaga zu befreien, daran verzweifelte ich.

Es wurde Abend. Um mich her quietschten die Zentralverriegelungen, der Hund bellte. Ich sah hinauf zu den Fenstern. Wären sie da, müßte jetzt das Licht angehen. Oder sie würden die Rolläden runterlassen.

Wieder ließ ich es in der Wohnung klingeln, dann probierte ich es auch zuhause. Den ganzen Tag über kein Anruf von Marya, keine Nachricht auf der Mailbox. Um 22 Uhr gab ich auf, wie lang ein Tag sein kann!, und fuhr mit der Moskauer Linie bis zur Station Oktoberplatz. An der Akademija Nawuk stiegen eine Blonde und ein Mädchen mit dunklen Haaren ein. Haaren, die aussahen, als hätte sie sie soeben frisch gewaschen. Sie standen am anderen Ende des Wagens, hielten mir den Rücken zugewandt. Ich schlich mich näher. Kurz bevor ich aussteigen mußte, drehten sie sich zu mir um.