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Auf dem Weg zum Hotel verfolgte ich jede zweite Brünette wenigstens fünfzig Schritte weit.

Ich kam abgehetzt an, versuchte es mit einem letzten Anruf, bevor ich das Handy endgültig abstellen würde. Dann fielen mir Vor- und Vatersname von einer ein, bei der Alezja ein paarmal geschlafen hatte, wenn sie in Minsk war und nicht bei mir übernachten wollte, weil wir uns gestritten hatten. Oder gar keine Worte zwischen uns gefallen waren. Tamara Iwanauna. Den Namen gab es in Minsk ungefähr fünfzigtausendmal. Ich sehnte einen Nachnamen herbei, aber ich war mir sicher, daß Alezja ihn nie erwähnt hatte.

Ich schlief in den Kleidern auf dem Bett ein. Ein Traum schenkte mir den Nachnamen. Aber als ich um vier Uhr früh davon erwachte, daß sich der Reißverschluß des Pullovers in meine rechte Wange gebohrt hatte, verschwand auch der Name wieder.

Ich drehte mich auf die andere Seite und ließ ihn ziehen.

Brest. Bahnhof

Der Bahnhof Brest. Unterteilt in einen westlichen und einen östlichen Sektor, treffen auf seinen gewaltigen Gleisanlagen die westeuropäische Spurweite von 1435 mm und die osteuropäische Spurweite von 1520 mm aufeinander. Die Umspuranlagen befinden sich in riesigen Wagenhallen, in die die umzuspurenden Wagen mit Rangierlokomotiven geschoben werden. In den Gebäuden werden die Drehgestelle gelöst und die Wagenkästen angehoben. Anschließend tauscht man Gestelle und Kupplung aus, bevor die Wagen, auf neuen Drehgestellen angebracht, die Hallen Richtung Terespol in Polen wieder verlassen. Der ganze Vorgang dauert Stunden, die Reisenden können den Zug nicht mehr verlassen.

(Aus einem Reiseführer)

In meinen Träumen ist mein Alter stehengeblieben. Ich bin 25 Jahre. Darauf sollte auch mein Paß lauten. 25 Jahre. Keinen Monat jünger, keinen älter.

Ich träumte. Ein Kerl, der aussah wie ein fett gewordener Gábor, veranstaltete Windhundrennen um mein Bett und nahm pro Lauf fünftausend Dollar Grundeinsatz. Als alle Rennen beendet waren, sagte er:

»Ich geh nach oben und laß mir einen Bart wachsen.«

»Das ist bürgerlicher Scheiß, vom After rückwärts gelabert«, antwortete ich.

Ich träumte. Erwachte, vergaß den Traum. Träumte ihn weiter. Erwachte, erinnerte mich an den Traum. Jetzt versuche ich ihn wieder zu vergessen.

Statt noch einmal zu Tatsianas Wohnung zu fahren oder zu meiner oder zu unserem Entenpostillon, verbrachte ich den Tag auf dem Oktoberplatz. Ich sah Bauarbeitern vor dem Kulturpalast zu, nahm Abschied von den froststarrenden Buchstaben auf dem Museum für die Geschichte des Großen Vaterländischen Kriegs (Padvigu naroda zhit w wekach – Die Heldentat des Volks bestehe in Ewigkeit!); ich schnippte eine letzte Zigarette, die ich von einem pausbäckigen Studenten geschnorrt hatte, in einen der zentral aufgestellten Blumenkübel (Nächtliche Stolperfallen für Besoffene? Oder sollten sie davon abhalten, weiterhin Namen auf das klinisch reine Pflaster zu kotzen?).

Dann ging ich zur Njamiha, setzte mich in ein Café, lauschte den Stimmen der Jeunesse d’Or. Es waren Stimmen mit unüberhörbar russischer Metropolfärbung. Oligarchentöchterchen. Oligarchenweibchen. Ein Baß dröhnte dazwischen:

»Eure Generation redet doch wirklich nur noch von Geld. Geld und Mobiltelefone. Das Telefon ist das Erbe des Kommunismus.«

Aus mir platzte ein Lachen, das nicht mehr mir zu gehören schien. Es gehorchte mir jedenfalls nicht. Von allen Tischen starrte man zu meinem herüber, und ich konnte nicht mehr aufhören zu lachen, ich lachte und lachte, stand auf, langte nach meinem Seesack, noch immer von Lachen geschüttelt, dann trat ich an den Nebentisch, legte mein Handy zwischen die Kaffeetassen, und sagte, die letzten Zuckungen in meinen Mundwinkeln verbergend, zu dem auf die Tischoberfläche starrenden Familienvater:

»Sie haben recht. Hier. Nehmen Sie, Gaspadin. Nehmen Sie den Kommunismus aus meinen Händen. Nehmen Sie ihn entgegen.«

Es war bereits viertel vor sieben, in fünf Minuten ging mein Zug. Ich spürte, wie die Kopfschmerzen kamen. Dann hörte ich Kies knirschen, Schritte näherkommen.

»Die gute Nachricht zuerst: zwei Visa für die Ausreise.«

»Ich brauche nur noch eines.«

Er hob eine Augenbraue. Wie Vater. Ich warf einen Blick in das Dokument. Es war auf meinen richtigen Namen ausgestellt.

»Das ist die schlechte Nachricht: auf die Schnelle gibt’s keine neuen Pässe. Dafür nehme ich auch nur 3 000.«

»Du lieferst mir die Hälfte. Du bekommst auch nur die Hälfte.«

Er knurrte, ich solle zur Hölle fahren. Als er das Geld in Händen hielt, wünschte er mir doch noch eine gute Reise, beehren sollte ich ihn so bald nicht wieder. Ich bestieg den Zug im allerletzten Moment. Die Schaffnerin sah böse auf mich herab. Erst als ich auf Augenhöhe war und sie mit der unschuldigsten mir zu Gebote stehenden Miene anlächelte, lächelte sie zurück.

Es sah gut aus. Wie letztes Mal auch. Das Visum wirkte tadellos. Ich konnte nur hoffen, daß sie mich noch nicht suchten. Ich nahm mir vor, genau auf die Reaktion des Zugpersonals zu achten.

Stanislau hatte recht behalten. Die Frage war nicht, ob man mich hier haben wollte. Die Frage war, wie ich hier wieder rauskäme.

Ich reichte Paß und Visum an die Zugbegleiterin weiter. Sie monierte, daß das Ausreiseformular nicht vorschriftsgemäß eingeklebt war. Ich bat um Entschuldigung und Einsicht in den Paß, ließ eine Hundertdollarnote darin verschwinden. Sie sah mich nicht mehr an, steckte die Papiere ein und ging.

Bis Baranawitschy waren es knapp zwei Stunden. Vorher würde die Miliz nicht zusteigen.

In Gedanken wählte ich die Nummern, die ich mit Marya verband, deren Rechts-Links-Oben-Unten-Bewegungen auf dem Display ich längst auswendig kannte, by heart, und in Gedanken legte ich rasch auf. Ich wußte, es würde wieder nur durchklingeln, zwei lange Minuten, bevor mir die Telefongesellschaft mit aufdringlichem Besetztzeichen verkünden würde: »Gib die Leitung endlich frei für Menschen, die hierzulande etwas erreichen wollen, zumal jemanden erreichen wollen, zumal jemanden, den sie auch erreichen können!«

Ich flirtete mit der Schaffnerin, bestellte einen Kaffee. Dann noch einen. Ich spielte mit dem Rausgeld, acht Fünfhunderter und ein Tausendrubelschein. Der Schein war kaputt, trug ein großes ausgestanztes Loch in seiner Mitte, sei nur noch achthundert wert, scherzte die Zugbegleiterin.

Ich verschüttete Kaffee.

Auf dem Tisch zeichnete ich den Bewegungsablauf der Telefonnummer in einer Lache nach. Marya. Ich suchte, meinen Bewegungsplan der nächsten Stunden zu rekapitulieren. Zu ordnen. Zu zähmen. Zu bändigen. Zu dressieren.

Bis Baranawitschy waren es anderthalb Stunden.

Dann begann ich zu schreiben. Mir fielen die Worte wieder ein, die Lieblingsworte meines ungarischen Literaturprofessors: Schreiben heiße, schreibend den eigenen Tod zu erfinden.

Ich habe Draht gekauft, schrieb ich, Draht zum Überbrücken der Sicherung.

Ich schrieb, trank Kaffee, schrieb und schrieb.

Hinter Baranawitschy war die Landschaft aufgerieben, von der Nacht vergewaltigt. Sonne, die über einer Schneelandschaft untergegangen war. Oder genauer: alles andere als untergegangen war. Verblichenes Schwarzblau am Horizont, in den Höhen noch immer graduelles Grau, die letzten schneefreien Grasflächen am Schienenrand noch zu erkennen, nur die Birkenwäldchen waren keine Birkenwäldchen mehr. Erst morgen würden sie ihre Farbe und Gestalt zurückerhalten.