Dann, schon ganz nah: Brest. Brest durch das Loch in der Tausendrubelnote. Die Ebene. Dahinter der Fluß. Über dem Fluß die Heldenfestung, der Himmel, der aufziehende Regen, Grauregen. Vom Licht der Stadt angestrahlt: die Schlote, die Türme, die Kirchen. Der rote Stern über dem Bahnhofsgebäude.
Und meine Angst. Angst vor den Bahnhöfen der großen Städte. Die schon immer scharf bewacht worden sind.
Brest. Die Stadt weidete sich vor meinen Augen aus, bis sie dalag wie erlegtes Wild.
Es war 23 Uhr. In einer halben Stunde würden wir in die Umspurhallen einfahren. Ob ich inzwischen auf Fahndungsfotos war? Wenn nur die Kopfschmerzen nicht wären, nicht schon wieder diese Kopfschmerzen! Die Migränetablette, die ich im Mund zerbiß, schmeckte nach Galle.
Ich ging noch einmal auf die Zugtoilette, bevor die Schaffnerin sie verschließen und nicht wieder öffnen würde, bevor wir weit genug auf polnischem Boden wären. Im Klosett verklumpten Tabakkrümel und Fäden von einem Zigarettenrest, Scheiße und zerknülltes Papier zu einer gelbbraunen Melasse. Ich versuchte, sie mit meinem Strahl zu versenken, zu sehen, was zuletzt unterging, den Widerstand hielt. Es war das Papier.
Ich beschloß, mich hinzulegen. Auch wenn es nicht wahrscheinlich war, daß ich in den Umspurhallen mehr als zehn Minuten am Stück schliefe.
Ich hörte, wie der Zug in die erste Halle einfuhr, zog die Jalousie vor dem Fenster ganz herunter. Für einen Moment erhellten grelle Funken die Nacht. Durch einen Riß, der sich über die gesamte Breite zog, drangen die Lichtfetzen ins Abteilinnere. Ein tiefes Kollern. Das Spannen einer riesenhaften Feder. Es begann bei den hinteren Waggons und setzte sich nach vorn fort.
Dann begann die Tablette zu wirken, und ich nickte ein.
Ich tauchte und tauchte und tauchte, ohne zu atmen. Ich sah eine Höhle vor mir, einen Karstgang, das Wasser wurde kälter, und ich schwamm hinein.
Sekundenschlaf.
Lichtbogen. Ein Schweißgerät.
Die Eisenbahn fährt vor und zurück, vor und zurück.
W lesu radilas jolatschka – Im Walde wuchs ein Tannenbäumchen.
Eine helle und eine dunkle Stimme, eine junge und eine alte, eine weibliche und eine männliche.
Ein Schrecken ohne Ende.
Sekundenschlaf.
Die Eisenbahn fährt vor und zurück, vor und zurück.
Der Riß in der Jalousie.
Die Glut einer Zigarette.
Ein Gesicht, das eines Toten, ganz nah an der Fensterscheibe.
Von der Tag- und Nachtgleiche menschlichen Verstandes.
Sekundenschlaf.
Wenn es einer hinkriegt, dann du, Wasja.
Der Wagen hebt sich, jault auf, fährt krachend nieder.
Brest Zentralny.
Beton und Stahl. Beton auf Stahl. Stahl auf Beton.
Sekundenschlaf.
Meine Erinnerungen springen vor und zurück, vor und zurück.
Alle Toten von Brest, alle Helden von Brest.
Brest Zentralny.
Die weibliche Ansagestimme.
Wortfetzen aus dem östlichen Bahnhof.
Herübergeweht durch den Nachtwind.
Anschluß an die Züge nach Minsk, Moskau, Almaty, Kiew.
So leicht wirst du die Baba Jaga nicht los.
Die Notbeleuchtung über der Tür springt an.
Das haben schon andere probiert.
Grünes, blaues, gelbes Flackern.
So leicht wirst du die Toten nicht los.
Sekundenschlaf.
Vor und zurück, vor und zurück.
Brest Zentralny.
Alle fahren wir zur Hölle.
Du hättest die Seele der Baba Jaga finden müssen.
Stahl auf Beton.
Du hättest die Seele der Baba Jaga töten müssen.
Sie hält sie in einer Nadel versteckt.
Die in einem Ei liegt.
Das in einer Ente ruht.
Die in einem Hasen gründelt.
Der in einer eisernen Kiste sitzt.
Vergraben unter einer Eiche.
Auf einer Insel.
Weit draußen im Meer.
Hin und her.
Hin und her.
Röööt. Röööööööööt. Die Besoffenen bliesen eine Nachtmusik. Sie rüttelten an der Abteiltür, schmetterten sie auf, brüllten »S nowym godam! Frohes neues Jahr!«, röööt, sie zogen weiter, von Abteil zu Abteil, röööööt, »Frohes neues Jahr, gottverdammte Scheiße auch!«
Ich schüttelte den Schlaf ab, trat auf den Gang. Die Kopfschmerzen gaben einen Moment Ruhe, aber ich konnte mein Gleichgewicht nicht finden. Ich stützte mich rechts und links ab, schob mich, zog mich vorwärts, vorbei an den umherirrenden Gestalten,
um endlich die Plattform zwischen den zwei Liegewagen zu erreichen,
Ich wollte rauchen, blickte aus der offenen Tür, und sah einem vielleicht vierzigjährigen Bahnarbeiter direkt in die Augen.
»Frohes neues Jahr«, sagte ich.
»Dir auch, Brüderchen.«
»Kann ich dir eine Zigarette abkaufen?«
»Nein.«
Er sah mich durchdringend an.
»Aber du kannst eine mit mir rauchen. Auf das frohe neue Jahr.« Ich stellte mich auf die unterste Treppenstufe, überragte ihn so um Haupteslänge. Wir rauchten schweigend. Bei den letzten Zügen blitzte es in meinem Schädel auf. Ich drückte die Zigarette aus, klopfte Brüderchen auf die Schulter, schleppte mich zurück ins Abteil.
Ich verfiel wieder in einen grauen Schlaf.
Vor und zurück. Vor und zurück.
Das Licht ging an, die Tür rauschte auf, ein Schäferhund sprang herein, sprang auf mich zu, fletschte die Zähne, sprühte Funken aus seinen Augen, der Zöllner rief ihm etwas zu, nur die linke Hälfte seines Kopfes schien in der Abteiltür auf. Die Nase des Tiers senkte sich, zog über den Boden hinweg in die Ecken des Abteils, dann kehrte es zu seinem Herrchen zurück. Licht aus. Die Tür wurde mit einem Ruck zugezogen.
Wir hatten die Umspurhallen verlassen. Der Zug fuhr wieder. Langsam trottete er dahin. Er ruckte. Mußte sich erst an seine neue Haut gewöhnen. Mußte in sie hineinwachsen.
Ich öffnete die Jalousien ganz, sah in die Nacht hinaus. Sah Lichter. Da vorn war Terespol. War Polen. War das blaue Schild der Europäischen Union.
Es roch nach Erbsen. Mir wurde schwarz vor Augen. Ich rannte zur Toilette, um mich zu übergeben, sie war noch immer verschlossen, rannte weiter zur Plattform, wo ein Müllsack hing, spie hinein, es war kaum mehr als Galle, befreite nicht. Ich sah, wie ein Schaffner an mir vorübereilte, ich bekniete ihn geradezu, und er schloß mir widerwillig eine der Zugtoiletten auf, nicht ohne darauf hinzuweisen, daß dies gegen die Vorschrift war.
Zweimal verlor ich das Bewußtsein, zweimal schlug ich mit dem Kopf gegen die Bodenheizung, zweimal kam ich so wieder zu Bewußtsein. Mir schien es eine halbe Ewigkeit, die ich so zugebracht hatte. Der Zug war in diesem Moment zum Stehen gekommen.
Ich wankte zurück zu meinem Abteil. Die Schaffnerin sah mich schon von fern, huschte aus ihrem Coupé und paßte mich vor meiner Tür ab. Sie blickte mich besorgt an, aber sie fragte nicht, wie es mir gehe, während sie ihre beringten Fingerchen schüttelte, sondern eröffnete mir, daß es Probleme gebe mit meinem Paß. Oder mit dem Visum. Sie mußte die Wirkung an meiner Miene abgelesen haben und machte ein noch besorgteres Gesicht. Zwei Offiziere hätten nach mir gesucht, aber ich sei ja nicht im Abteil gewesen.