»Es gibt Ärger, Gaspadin, man sucht Sie. Besser, Sie gehen ihnen entgegen, ich weiß auch nicht, sie sind nach hinten, weg von den Liegewagen. Gehen Sie ihnen entgegen, sonst kommen Sie nicht über die Grenze.«
Ich dankte ihr. Schlüpfte zurück in mein Abteil, verschloß die Tür. Setzte mich. Vor meinen geschlossenen Augen war gleißendes Licht, also öffnete ich sie wieder.
Dann sah ich ihn.
Er stand neben mir am Fenster. Sah in die Nacht hinaus. Die Entzündung war noch immer nicht besser geworden, er stand gebeugt. Beide sahen wir in die Nacht hinaus. In die Nacht des stehenden Zuges.
Es war still. Nur hin und wieder drang ein Laut von einem besoffenen Gröler zu uns herüber.
»Großpapa«, sagte ich, »ich habe Angst.«
»Ja, Kleiner, das verstehe ich.«
»Sie suchen schon nach mir.«
»Davon kannst du ausgehen.«
Der Kopfschmerz zwang mir die Augen zu.
»Wo warst du die ganze Zeit?«
»Wo warst du denn?«
»Bei deinen Töchtern.«
»Bei meinen Töchtern, oho!«
»Bist du böse mit mir?«
»Sollte ich es sein?«
»Ich glaube, ich habe eine schlechte Partie gespielt.«
»Wir machen immer ein paar falsche Züge.«
»Es waren nicht nur ein paar falsche Züge. Ich hab das ganze Spiel verpatzt.«
»Das stimmt. Du hast gespielt wie ein Feigling. Du hast die ganze Zeit gedacht, du müßtest diese Gefühle vor der Welt verstecken. Gar nichts mußtest du. Scheiß drauf, daß es deine Tanten waren!«
Ich hörte Schritte, die sich schnell meinem Abteil näherten. Jeder Tritt ein Hammerschlag auf meinen Schädel. Im Moment, in dem ich erwartete, daß die Tür aufginge, entfernten sie sich wieder. Ich hörte ein leises Lachen. Von einem jungen Mädchen.
»Das alles wäre nicht passiert, wenn du dein Leben in die Hand genommen hättest, wenn du einmal zu dir gestanden hättest. Aber du bist schon immer vor allem abgehauen. Das war eine richtig miese Eröffnung, Kleiner.«
»Du bist nicht zufrieden mit mir, Großpapa?«
»Scheiß auf meine Zufriedenheit!«
In der Ferne knallte ein Feuerwerkskörper.
»Großpapa?«
»Ja?«
»Wie war das eigentlich mit dir und der Tscheka?«
»Sonst hast du keine Probleme?«
»Es ist mir wichtig.«
»Hast du einmal drangedacht, dir einen anderen Namen zu verdienen? Krasnyj Wasilij, der Rote Wasilij. Wie klingt das für dich?«
»Russisch.«
»Und Russisch ist nicht gut?«
»Hast du an deinen Namen gedacht, als du die Leute verraten hast?«
»Ich habe an die Sache gedacht. Wohin kämen wir, wenn wir uns unser Leben wegen ein paar dreckiger Spießbürger kaputtmachen lassen würden?! Das tun nur Dummköpfe.«
»Wie ich?«
Der Zug ruckte an, fuhr einige Meter zurück. Dann hielt er wieder.
»Ich glaube nicht mehr daran, daß meine Geschichte gut ausgehen wird, Großpapa. Mit Alezjas Tod hätte ich leben können. Aber ich weiß nicht, ob ich damit leben kann, daß ich den Menschen getötet habe, den ich all die Jahre am meisten geliebt habe.«
»Das ist alles?«
»Das ist alles.«
»Dann geh raus. Wenn du nichts mehr zu gewinnen hast: Geh raus, raus und lauf, Kleiner. Bevor sie noch weiter zurückfahren. Du hast nichts mehr zu verlieren. Und du kannst nichts besser als davonlaufen.«
Meine Hand fuhr über die Blätter, die vor mir lagen. Ich hatte mitten im Satz aufgehört zu schreiben, die Aufzeichnungen noch nicht beendet.
Wahrscheinlich hast du recht, Großpapa.
Noch einen letzten Satz. Damit werde ich meine Aufzeichnungen beenden. Aufs oberste Blatt werde ich »Für Marya« schreiben. Ihre Adresse werde ich darauf schreiben. In diesem letzten Brief werde ich mich zu erkennen geben. Ganz. Keine Lehrmittelsammlung. Nur meine Geschichte.
Dann werde ich meinen Stift beiseitelegen.
Ich werde den Zug ohne mein Gepäck verlassen. Eine eiskalte morgendliche Brise wird vom Fluß aufgestiegen sein und mir um die Kehle greifen.
Ich werde loslaufen, Großpapa, lange harte Schritte auf meinen Ballen. Ich werde laufen, auf den Fluß, auf das Licht zu.
Vor mir die Lichter von Terespol.
Hinter mir ein Ruf.
»Stoj! – Stehenbleiben!«
Da drüben ist Polen.
Der rasende Zigeuner ist noch immer schnell.
Dann noch ein Ruf.
»Stoj!«
Da drüben. Da ist Licht.
Da drüben. Da, ins Licht.
Personenliste
(Vor- und ggf. Vatersname, weißrussisch und russisch, Kosename)
Wasil Mikalajewitsch (oder Wasilij Nikalajewitsch, Wasja)
Tatsiana Stafanauna (oder Stepanawna, Tanja) – Wasils älteste Tante
Alezja Stafanauna (oder Stepanawna, Lesja) – Wasils mittlere Tante
Marya Stafanauna (oder Stepanawna, Manja) – Wasils jüngste Tante
Mikola Stafanawitsch (oder Nikalaj Stepanawitsch, Kolja) – Wasils Vater
Sweta – Wasils Mutter
István oder Stafan oder Stepan (»Der Rote István«, »Der Rote Ungar«) – Wasils Großvater, Vater von Mikola, Tatsiana, Alezja und Marya
Katalin oder Jekaterina (Katika, Katja) – Wasils Großmutter, Mutter von Mikola, Tatsiana, Alezja und Marya
Stanislau (Stas) – Wasils Freund
Jadwiha – Stanislaus Schwester
Onkel Janka oder János – Wasils Urgroßonkel, Katalins Onkel
Auf die bis ins Detail korrekte Verwendung von Kurz- und Kosenamen, wie sie in Weißrußland üblich ist, habe ich zugunsten einer einfacheren Lesbarkeit für ein deutsches Publikum verzichtet.
Zur Lautung
Die Umschrift folgt im Zweifel der belarussischen Aussprache, also Kalbasa (endbetont) statt russisch Kolbasa; ›O‹ ist daher immer betont, sonst wäre es kein ›O‹, sondern ein ›A‹. Ausnahmen hiervon sind Eigennamen russischer Herkunft wie Gorbatschow oder Tschigorin, sowie stehende Begriffe wie Kommunalka.
(Salvatorische Notiz: Für Russisten mag dies befremdlich aussehen, es hat aber für Deutsche den Vorteil, daß sie die Wörter sprechen, wie sie geschrieben werden.)
›Zh‹ entspricht weichem ›Sch‹, wie in Journal (z.B. beim Ortsnamen Uzhgarad); ›Y‹ ist russisch / belarussisch ›Ы‹, ein I-Laut, bei dem die Zunge weit zurückgezogen wird.
Der Einfachheit halber unterscheide ich nicht zwischen hartem und weichem ›S‹ (außer bei Alezja, das mit wunderhübsch weichem ›Z‹ gesprochen wird).
Bei den ungarischen Wörtern entspricht ›S‹ dem deutschen ›Sch‹ (István = Ischtvaan); ›Sz‹ ist deutsch ›S‹ (Szálasi = Saalaschi); ›Gy‹ in etwa ›Dj‹ (wie in Madjare).
Ungarische Wörter werden grundsätzlich auf der ersten Silbe betont.
Herzlichen Dank…
…für Lektorat, Korrektorat, Ideenaustausch ganz besonders an: Annette Kosakowski, Anja Kümmel, Daniela Hägele, Svetlana Schmid, meine Minsker Chasjaika, T.R., Axel Haase, Joachim Zelter, L.W. und W.G.;
…an meinen Verleger Hubert Klöpfer, an den Förderkreis deutscher Schriftsteller in Baden-Württemberg e.V. für das Arbeitsstipendium, das mir die Verfertigung des vorliegenden Buchs ermöglichte;
…an Hans Schiebelhuth für die Übersetzung aus »Tod, der stolze Bruder« von Thomas Wolfe; an Friedrich Rückert für die Rumi-Übertragung; die Textstellen aus dem Neuen Testament folgen der Zürcher Bibel, die Rimbaud-Zitate der Übersetzung von Werner Dürrson;