Ein Schreiben seines revolutionären Waffenbruders Imre Nagy, das Großpapa immer bei sich trug, bestätigte, daß er ein wertvoller Kadermann war. Wertvolle Kadermänner siedelte Stalin in Gebieten an, die vor dem Krieg zu Polen gehörten, mit den Ihren sollten sie sich um die Sowjetisierung kümmern. So kam meine Familie in die Nähe von Hrodna. Belarus. Und kam doch nie hier an.
Und aus István wurde Stepan oder Stafan, und aus János wurde Janka, und aus Katika Katja. Und dann haben sie in Sándors Grabtafel den Namen Sascha schnitzen lassen. Krasnyj Sascha, der Rote Sascha.
Janka heiratete zum zweiten Mal, seine Katja bekam eine Stiefmutter, die halb taub und halb scheel war, so bannte er wenigstens die Gefahr, daß er wieder betrogen würde. Großpapa zog von Dorf zu Dorf und verdingte sich als Ausbesserer. Es gab jede Menge auszubessern, besonders nach der alljährlich wiederkehrenden Flut. Im ganzen Land fehlte es an Männern. Keiner packte besser zu als der Großpapa, auch wenn er manchmal vor lauter Übereifer in fremde Taschen und unter fremde Röcke packte.
Ein neues Jahr, und der Hauch aus Moskau kam als Sturm in Budapest an. Ungarns politische Führer, die Rákosis und Gerős und Hegedüs, kamen und gingen. Auch Imre Nagy ging, aber er ging nur, um noch bestimmter wiederzukehren. Vier Wochen. Vier Wochen lang war Großpapa wieder zehn Jahre alt. Schlief nicht. Aß nicht. Kannte kein Blut, keine Familie, nur Flammen, die flügge wurden. Dachte daran, ob er den Weg, den er vor zwölf Jahren gekommen war, auch zurück schaffen würde. Aber als die Panzer der Sowjets auf denselben Stellen standen, wo einst die deutschen gestanden hatten, und in die Menge feuerten, verstand er, daß er, mit seinem Leiden und seiner Rückenmarkentzündung, ein Überbleibsel der Flucht quer durch die Karpaten, nicht einmal mehr zum erschossenen Konterrevolutionär taugte. Nicht Imre Nagy hatte den Sozialismus verraten – der Sozialismus hatte ihn verraten. Großpapa begann den Geschmack an ihm zu verlieren.
Umso mehr fand er jetzt Gefallen an Katjas Haar, das nach Beeren roch und nach frischer Butter und am Sonntag auch ein bißchen nach dem Versprechen allergrößter Lust. Fünfzehn Jahre war sie alt, die Großmama. Sie schien einem Kolchos-Plakat entlaufen, mit ihren niedlichen roten Locken und den hohen Wangenknochen. Sie plapperte Weißrussisch und Russisch und alles zugleich und durcheinander in ihrer Trasjanka, ihrer Viehfuttersprache, und wußte vom Ungarischen nicht mehr als: »Vatter tot und Mutter tot, will gutt Frau sein so wie sie«. An einem Tag im späten September ließ sich die Großmama vom Großpapa in einen Winkel des Hauses ziehen, das sich wieder einmal satt trank an den Fluten aus dem Fluß; sie ließ sich das Versprechen abnehmen, der ach so tauben Stiefmama nichts davon zu verraten, wenn er sie in dieser Nacht in ihrem Zimmer besuchen käme. Und Katja, Großmama, die doch nur einmal einen Kuß hat drücken wollen auf den Mund eines ausgewachsenen Mannes, gleich ob der 19 oder 49 wäre, sagte fiebrig kichernd ja.
Die fünfziger Jahre. Man hat geglaubt, die Erde sei eine Scheibe und das Leben werde schon immerzu weitergehen, Atombomben hin oder her. Man rückte näher zusammen im Wasser. Wer aber behauptet, der Mensch liebe innig, was innig mit ihm verbunden, könne es jedoch nicht ebenso innig begehren – der kennt nicht die menschlichen Leidenschaften.
Und schon gar nicht die Potenz eines ungarischen Ausbesserers.
Nach der Geburt meines Vaters wurde der Alte etwas ruhiger. Als wäre er einer Heimkehr zugehastet. Und vielleicht kehrte er nun auch heim, irgendwie, ins Land, gegen das sein eigener Vater noch gekämpft hatte. Kehrte heim als Vater. Als väterlicher Freund. Erinnerte sich seiner eigenen Erziehung, sprach seinem Nikalaj noch einmal davon, daß der Sozialismus eine Herzensangelegenheit oder nichts sei. Sprach und sprach und sprach, über Wochen und Monate und Jahre sprach er, und er vergaß darüber den Sohn, dem der Kopf schwirrte und der doch nichts anderes zu wollen schien, als Onkel Janka auf seinen Fahrten zu begleiten, um Devisen zu ernten wie andere Weizen und Kohl.
Es begannen die Jahre, in denen wir uns in eine hartnäckige Ruhe duckten. Und uns zufriedengaben mit dem, was wir hatten. Die Zeit unserer ostdeutschen Gefriertruhen. Großpapa flüchtete sich unter die Kellertreppe zu seinem Schnaps, sachte, der Rückenmarkentzündung wegen, und er flüchtete sich in den Verschlag hinter der Fleischerwohnung und trank sich mit Rasou, der die besten Rauchwürste in der ganzen Sowjetunion machte, die Leber prall. Nur in die warmen Kissen der Großmama flüchtete er sich immer seltener.
Die zwanzigjährige Kumpanei mit Rasou, dem Fleischer. Der ihn besser kannte als die eigene Frau. Vielleicht kannte auch ich ihn besser. By heart. In mancher Hinsicht bin ich Großpapas Kind. Das seinen Geschichten lauschte, Stunde um Stunde. Sie inwendig lernte und auswendig lernte. Und ihre Lücken mit dem Material seiner Phantasie füllte, wenn es einmal nicht mehr weiterkam.
Und meine Tantchen? Zwar wurde ich einige Tage vor Tatsiana geboren, doch Mutter merkte erst sehr viel später als Großmama, daß sie schwanger war. Großpapa sollte es Vater irgendwie beibringen, daß sie bald einen Esser mehr im Haus hätten, daß er jetzt doch noch ein Geschwisterchen bekäme, kurz: Er solle sich einen Moment setzen, solange noch Platz sei, und dann hurtig mit seinem Onkel Janka losziehen, einen schönen neuen Stuhl aufzutreiben.
Als Alezja sich zwei Jahre darauf ankündigte, zeigte Großpapa nur noch auf den Stuhl. Vater saß bereits.
Und die Verkündigung Maryae war dann ohnehin Großmamas Aufgabe, so hinfällig war der Rote István mittlerweile geworden.
»Der alte Hund, Gott hab ihn selig, und nichts für ungut«, sagte mir Rasou Jahre später beim Laubbrennen in wodkaseliger Vertrautheit, »mit der vermaledeiten Fallsucht, an der er gestorben ist, nach den freudlosen Jahren mit deinem Duckmäuser-Vater und deiner grantigen Großmama, gell, da muß es ihm eine Genugtuung gewesen sein, sie, ihn, und die Schwiegertochter mit drei Waisenbündeln schmachten zu sehen. Nur dich, dich hat er bestimmt nicht gern allein zurückgelassen, Wasja, mein Junge.«
Ich nickte und prostete ihm zu. Laß es nicht wiederkommen.
Ich brenne das Laub und lasse den Rauch vom Westwind verwirbeln. Das Laub brennt sich schöner in der Dämmerung.
István hätte man mich nennen sollen
István hätte man mich nennen sollen. Stepan, Stafan, Steven, Étienne, Stefan, Esteban.
Nach Großpapa hätte man mich nennen sollen. Weil ich ein Versehen, nein, ein Unfall war. Denn eigentlich war ich als Mädchen geplant. Großpapa hat sich ein Mädchen gewünscht, Großmama hat sich ein Mädchen gewünscht, Vater hat sich ein Mädchen gewünscht, nur meiner Mutter war schon alles egal, wenn nur diese elende Zeit, für zwei zu essen, für zwei zu kotzen und zwei zu tragen, endlich vorüber wäre. Dann bin ich doch ein Junge geworden. Und die Familie hat sich entschlossen, wohl oder übel auf Blau umzustellen.
Ein Mädchen. Wäre ich das Mädchen geworden, das sie erwartet hatten, was wäre uns alles erspart geblieben, was wäre uns allen erspart geblieben! Ziehen sich durch die Geschichte doch die nicht erspart gebliebenen Männerferkeleien! Was hatten wir nicht schon alles überleben müssen, nur weil aus Männern keine Frauen geworden sind! Und jetzt hatten wir also mich.
István. Man hätte ein Zeichen setzen, das Kind mit dem falschen Chromosomen den edelsten aller Namen, einen Königsnamen!, tragen lassen können. Als kleinen Willkommensgruß. Wie ein Sedativum verabreicht, damit ich nächtens besser schliefe. Man hat sich anders entschieden. Aus purer Enttäuschung haben Großpapa, Großmama und Vater sich anders entschieden, und weil Mutter auch noch zur standesamtlichen Eintragung alles egal war, wenn nur das Kind bald irgendeinen Namen erhielte und mit dem Schreien aufhörte, hat es einen Namen erhalten. Irgendeinen. Nur nicht István.