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Im Alter von sieben Jahren sollte mir Großpapa auf Drängen von Großmama endlich einmal etwas Nützliches beibringen und mit dem Gerede von der Revolution aufhören. Der Alte entschied sich fürs Schachspielen. Als dies so gut klappte, daß ich ihn schon wenige Wochen später nach seiner verpatzten Tschigorin-Eröffnung das erste Mal besiegte und dafür prompt am Nachmittag ins Bett geschickt wurde, kam das Ausbessern an die Reihe. Großpapa war bereits in Pension, in unserem Haushalt gab es viel zu wenig auszubessern, und das wenige, das ihm Rasou aus dem Fleischkombinat brachte, reichte kaum für ein paar Stunden Beschäftigung im Monat. Also verfiel Großpapa darauf, elektrische Geräte zunächst einmal unter Generalverdacht zu stellen, und sie, wenn sie schon nicht ausdrücklich kaputt waren, doch für so untauglich zu erklären, daß sie ausgebessert, ja verbessert werden mußten. Kein Schalter und keine Sicherung, die seinen kritischen Augen standhielten, selbst nach dem zwölften Aprikosenschnaps, der den Lauf der Uhr erst rund machte, keine Wicklung eines Elektromotors, die eine Fehlerprüfung überstanden hätte. Für mich war das auf Dauer nichts. Geduld konnte mir auch Großpapa nicht beibringen, ich brauchte rasche Ergebnisse, schnelle Erfolge. Wollten die Geräte nicht, wie ich wollte, drohte ich ihnen. Wollten sie noch immer nicht, begann ich, auf sie einzuschlagen. Waren sie so verblendet, mir auch dann nicht zu gehorchen, zerstörte ich sie, mit Zornestränen in den Augen. Sollten sie, sollten die anderen Geräte doch sehen, was sie davon hätten, wenn sie sich mir widersetzten. Großpapa beobachtete solche Szenen, beobachtete mich mit traurigem Blick. Er schwieg, auch dann, wenn mir das Blut über die Hand floß, wenn ich mich selbst verletzt hatte in meiner Raserei.

Nur einmal sagte er:

»Du hättest einen prima Kulaken abgegeben!« Dann schickte er mich spielen.

Immer häufiger schickte er mich spielen. Schließlich bat er mich nicht mehr in die baufällige alte Garage neben dem Haus, die er sich als Werkstatt eingerichtet hatte.

Meine Tantchen hatten sich in der Zwischenzeit aneinander zu gewöhnen. Als Alezja mit vier Jahren endgültig dem elterlichen Schlafzimmer entwachsen war, steckte man sie zu ihrer großen Schwester, die zuvor mit mir ein Zimmer geteilt hatte. Ich bekam mein fürstliches Einzelzimmer, und Tatsiana bekam Platzangst. Die puppengleiche Alezja war stetig in die Breite gewachsen, glich mehr und mehr den derben ungarischen Bauers- und Schmiedeleuten, denen sie entstammte. Jeder Zoll ein Hammerschlag. Mutter fand immer seltener Kleidchen, die Alezja paßten, und so begann sie das Interesse an ihr zu verlieren. Tatsiana sollte sich von jetzt an um das Schwesterchen kümmern, aber sie und Alezja hielten es schon lange für Pech, als Geschwister zur Welt gekommen zu sein. Tatsiana hatte sich früh für Bücher zu interessieren begonnen, besonders eines über den Bau des menschlichen Körpers hatte es ihr angetan (wochenlang stand ich ihr als Vergleichsmodell zur Verfügung, bis uns Vater einmal dabei erwischte, anschließend kühlten zwanzig Fingerkuppen im kalten Wasser, und Tatsiana bat mich inständig, doch mit dem Heulen aufzuhören, mit den Griffeln könne sie mich einfach nicht streicheln). Immerhin gab sie sich Mühe, Alezja daran teilhaben zu lassen, ihr das Geheimnis der Buchstaben beizubringen, aber die winkte nur leise gähnend ab und durchsuchte das Haus nach den Süßigkeiten, die Großmama jeden Sonntag an neuen Orten versteckte. Jede Woche war Ostern. Und Buchstaben sättigten nicht.

Als Tatsiana eine neue Puppe bekam, die sie endlich von ihren anatomischen Vorlieben ablenken sollte, ging die ganze Familie durch eine grauenvolle Zeit. In Phase Eins weinte Alezja ohne Unterlaß, in Phase Zwei schlich sie wie eine Untote durch die Zimmer. Bis Vater und Onkel Janka loszogen, endlich Gleichheit und Gerechtigkeit unter den Schwestern zu stiften – was sie Zeit und Mühe kostete, schließlich war unsere Wirtschaft nicht darauf ausgerichtet, beliebig viele Puppen derselben Sorte zur freien Verfügung zu halten, und ohne Onkel Jankas Geschäftsverbindungen wären sie fraglos gescheitert.

Alezja, beim Auspacken noch voller Vorfreude, ließ ihre Mundwinkel hängen, als sie ihr neues Spielzeug erblickte.

»Och, das ist ja genau die gleiche.«

Sie seufzte herzzerreißend.

»Ich dachte, ich bekomme eine schönere als Tanja.«

Zurück also zu Phase Eins. Vater war entnervt. Großmama war entnervt. Tatsiana war entnervt. Ich ging auf die Wiese hinter dem Schlittenhügel, wie so oft in diesen Jahren, grub zwei kleine Löcher ins Erdreich, und übte Tiefstart. Ein guter Leichtathlet hat nie Trainingspause.

Der Schlittenhügel. Er war eine wenig spektakuläre Erhebung, gerade hoch genug, um im Winter eine zehnsekündige Fahrt hinter sich zu bringen, der Transport des Schlittens von der Wiese auf die Hügelkuppe dauerte siebenmal so lang. Was den Schlittenhügel aber zu einem echten Erlebnis machte, war der Weg nach Hause. Um wieder ins Städtchen zu gelangen, mußten alle Kinder am Friedhof vorbei. Es dämmerte schon am Nachmittag, war es Viertel nach fünf, sah man kaum mehr die Hand vor Augen. Wir orientierten uns an den hundert Lichtern auf den Gräbern, blakende, flackernde Lämpchen, »die Seelen der Toten«, sagte die Großmama. Jeder von uns hatte Schatten von menschlicher Gestalt und unheimlicher Länge gesehen, die keines dieser Lichter hätte werfen können. Über dem ältesten Teil des Friedhofs beobachteten wir wieder und wieder ein rotes Glimmern und Glosen. Manche erzählten von Begegnungen mit Unbekannten, die sie mit schwerem Zungenschlag nach dem Weg aus dem Krieg oder dem ins Leben gefragt hätten. Großmama beschwor eine Erscheinung mit klaffendem schwarzen Loch im Schädel. Sie hatte sich ihr, kaum war sie achtzehn Jahre alt geworden, unter schrecklich lautem Röcheln als ihr Vater vorgestellt. Großmama hatte ihren Korb fallen lassen, den Rock gerafft, sie war nach Hause gehetzt, hatte die Türen versperrt, und sich, mit dem Bild der Muttergottes und einem Nudelholz bewaffnet, in der hell erleuchteten Speisekammer eingeschlossen. Uns Kindern standen die Haare zu Berge.

»Dummes Zeug«, schrie der Großpapa, »wenn der Rote Sascha überhaupt jemandem erschienen wäre, dann ja wohl mir. Um einen zu saufen. Außerdem hat ihn keine einzige Kugel am Kopf erwischt.«

»Sondern?«

»Zwei am Bauch. Eine tiefer. Glatter Eierdurchschuß links.« Die Großmama zeterte, schlug die Türen, versalzte das Essen. Das konnte tagelang so gehen. Bis Großpapa aufhörte, ihr hämisch zuzuzwinkern.

Was unsere Familie in diesen Jahren rettete, war das Schlachtfest. Großpapa und Onkel Janka hatten es als eine Erinnerung an den Auszug aus Ungarn gestiftet. Und auch wenn die beiden ansonsten nicht oft miteinander verkehrten, weil Großpapa meinte, Onkel Janka habe aus Rache seinen einzigen Sohn zum Kapitalistenschwein gemacht, brachte sie die letzte Septemberwoche wieder zusammen. Die Woche, in der traditionell Schafhälften, die Rasou aus dem Fleischkombinat organisierte, geschlachtet, zerteilt und gewurstet wurden.

Die ganze Familie sah der Zeit mit Vorfreude entgegen. Wenn auch der übliche Streit nicht ausblieb, die Fäuste flogen und die Hände an Wangen klatschten, war er doch schneller als sonst geschlichtet. Jeder hatte genug mit dem Schaf zu tun und nicht mit sich. Sogar Vater schien gelöst und Mutter weniger teilnahmslos als sonst. Doch niemand war mehr in dieses Fest vernarrt als ich. Weil es Wurst gab, die geräuchert werden mußte. Und für das Feuern war ich seit meinem achten Lebensjahr ganz allein zuständig. Großpapa hatte mich sogar zum Generalfeuermeister ernannt und mir drei Orden aus Blech gebastelt, die ich in den Septembertagen offen am Hemd tragen mußte. Der erste zeigte zwei stilisierte Flammen, gelb auf rotem Grund; der zweite einen bronzefarbenen Salamander (bei näherem Hinsehen entpuppte er sich als Mops mit schlimmem Husten); der dritte bildete irgendetwas ab, das niemand erkannte, eine behaarte Wurst, vielleicht noch einen Mops, sichtlich fiel Großpapa zum Thema Feuer nichts Entscheidendes mehr ein. Ganz gleich: Während dieser Tage war ich Generalfeuermeister, hatte Holz gesammelt, auch ein wenig Laub gerecht. Meine Tantchen und ich sahen zu, wie Großpapa mit dem Feuer zu uns trat, er sagte, er liebe den Moment, wenn die Flammen flügge würden, ob er uns das schon erzählt habe?! Dann übergab er mir die kleine Fackel.