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Rauch stieg, der Westwind verwirbelte ihn, und er zog ins Haus, bis in die späten Abendstunden. Alezja stellte sich hin und wieder in den Wind. Dann tanzte sie, wild wie die Baba Jaga. Sie liebte es, nach Asche zu riechen. Und ich liebte den Geruch von Asche an ihr, in ihrem langen blonden Haar.

Drei Streichhölzer aus Teheran

Für die Hiesigen waren wir keine Hiesigen, wir waren die Familie vom Roten Ungarn. Aber die Hiesigen waren ja auch keine Hiesigen, selbst wenn das der einzige Name war, den sie sich selbst gaben: Die Hiesigen. Gefragt, welche Sprache sie sprächen: Die Hiesige. Was das für ein Land wäre: Das Hiesige.

Sie waren keine Russen. Sie wußten nichts von Belarus. Und Polen war unter ihren Füßen einfach, schwupp, westwärts gezogen worden. Sie hatten es, wie einen fliegenden Teppich, nicht aufhalten können, oder nicht aufhalten wollen, und nun waren sie fremd im Eigenen, sprachen eine fremde Sprache im eigenen Land, ohne das Land auch nur ein einziges Mal verlassen zu haben.

Wir waren das mittlere Streichholz. Das ganz links, faselte Churchill, während Väterchen Stalin seine Stiefel musterte und sich auf den Moment freute, sie endlich ausziehen zu dürfen, es war Ende November 1943, der englische Premier hatte seinen Londoner Nebel mit dem trüben Himmel Teherans vertauscht, der voller Staub war, und Churchill hustete sich krank und dumm, tagelang: das Streichholz ganz links war Deutschland, das kleine krumme daneben Polen, und das rechts außen, das der kahle alte Mann mit der Blume am Revers jetzt nach links verschob und dabei die anderen vom Tisch kullern ließ, das war Rußland. Wie Soldaten, die seitlich wegtreten. Auch die latschten anderen hin und wieder auf die Zehchen, das sei nun mal nicht zu ändern. Und dann beugte sich Churchill vor, hob Polen vom Boden auf, und zündete sich damit, trotz seines Staubhustens, eine Zigarre an.

Meine Kindheit in unserem Städtchen. Es krankte in der Sonne, und die Kleinstädterhäuser und die Scheuern und die Hühner dösten krank und schief unter unserem blauen Himmel. Blau. Das stählernste Blau, das ich in meinen dreißig Jahren erinnere. Und dabei erinnere ich so manches Blau: das flandrische, das den Malern einer fernen Epoche so wohlfeil war, daß sie ihre Bilder nicht genug damit zuschütten konnten, das stille venezianische Blau des Canaletto und das russische Blau, das stupide blaue Tuch, das den ganzen Sommer über Petersburg liegt; und dann unseres, ein Blau, so stählern und so schön, daß es uns mit Zins und Zinseszins von den Russen oder dem lieben Gott noch einmal abgefordert werden wird.

Unser Städtchen. Es verfiel bald nach dem Krieg, von dem irgendeiner behauptete, wir hätten ihn gewonnen (aber so recht glauben mochte es niemand, schließlich hatte jede Familie unzählige Beerdigungen hinter sich gebracht), verfiel in einen sowjetischen Dämmer. Aus dem Dämmer wurde Schlaf, wurde Tiefschlaf. Und auch das charakterisiert kaum den noch heute anzutreffenden Zustand, wenn ich die Straße von der Busstation zu meinem Elternhaus gehe, und mir außer einem streunenden Kater und dem streunenden Wind, der den Geruch der Silage mit sich trägt, niemand begegnet. In amerikanischen Western würde Tumbleweed die Stille noch stiller machen. Bei uns genügt ein ferner Hammerschlag, und die Tatsache, daß man die Hand, die den Hammer führt, den ganzen Tag nicht zu Gesicht bekommen wird.

Hier steht der Weizen dicht. Die Halme tragen zwei, drei Ähren, sie wachsen auf so engem Raum, daß man nicht durch sie hindurchkommt und die Wachteln nicht auffliegen. Das hier war immer nur »das Land«. Eben nicht Moskau. Nicht einmal Minsk. Doch wenn sich Touristen, meist übergewichtige, verlebte Deutsche, die alles ganz genau wissen wollten, nach Hrodna verirrten, immer auf der Suche nach leibhaftigen Erinnerungen an ihren ersten Besuch, den sie uns in ihren schlammbedeckten Panzern abgestattet hatten, hörten wir den alten Ausdruck: »Der Westen«. Das hier ist der Westen Rußlands. Hier: westrussisches Gras. Hier: westrussische Tümpel. Hier: westrussische Hühner. Hier: der westrussische Mensch. Als ob irgend jemand ernsthaft Kenntnis davon hätte haben wollen, daß es einen Westen, einen Süden, einen Norden in einem solchen Land überhaupt gäbe. Der Westen Rußlands? Aber liegt das nicht eigentlich im Osten? Am Ende der Welt? Braucht das Ende der Welt etwa eine geographische Feingliederung?

Hier steht der Weizen dicht. Nur selten backen wir Brot aus ihm, dafür ist der Durst der Männer zu groß. Allabendlich ziehen sie von einem Haus zum nächsten und sprechen sich die Lage des Landes schön. Und die Frauen freuen sich, daß das Haus männerfrei ist und treffen sich zum Durak spielen. Durak ist ein einfaches Kartenspiel, so einfach wie das Leben: Am Ende ist immer einer der Dumme und hat schlechte Karten. Oder überhaupt noch welche. Stundenlang spielen sie. Wenn die Männer nicht die Karten mitgenommen haben. Was sie gern tun, wie die Frauen feixen, um überhaupt etwas in der Hose zu haben.

Gott schütze uns vor den Kleinstädtern! Sie haben kein Land, sie haben kein Leben, und sie haben auch keine Sprache. Ich mußte unsere, meine Sprache erst wie eine Fremdsprache erlernen. Es gibt Aufnahmen von mir auf einem uralten Tonbandgerät, das mein Vater einem Belgier, einem ebenso verirrten wie verwirrten Moskau-Transitreisenden, Ende der Siebziger Jahre abgejagt hatte. Eine Grundig Stenorette. Man hört durch das 10-Kilohertz-Rauschen den schleppenden, scheppernden, bäuerischen Akzent meiner Kindheit. Weil man mich im Magasin und in den Bäckereien in Minsk ausgelacht hatte, meine Trasjanka, die »Viehfuttersprache«, die nicht Russisch war und nicht Weißrussisch, und doch von beidem etwas, das Schlechteste von beidem, das, das bestenfalls für die Schweine taugte, meine Sprache, meine Zunge, eine Schweinezunge: Weil man mich, den Weißrussen, in meinem eigenen Land ausgelacht hatte, begann ich in der Internatszeit damit, sie mir abzutrainieren, meine bäuerische Schweinezunge, meine bestialische Schweinezunge, begann ich damit, mir die russische Hochsprache aufzutrainieren, wie früher die Oberschenkelmuskeln, daß sie die 200 Meter lange Strecke überstanden, ohne zu übersäuern, ohne hart zu werden, jeden Tag drei Stunden, drei Stunden weniger Akzent, drei Stunden weniger Schwein. Ich erlernte eine Muttersprache, die meine Mutter nicht sprach. Wie eine Fremdsprache erlernte ich, was man in Moskau und in Minsk zu unserer Muttersprache erklärt hatte. Und noch heute bin ich mir nicht sicher, in meinem Umgang mit den Herren Professoren aus Rußland, mit Akademikerzöglingen und denen aus der sogenannten besseren oder großstädtischen Gesellschaft. Ich stottere. Ich kehre zurück zu unvernünftigen Worten und Phrasen, zurück zu meinen Kleinstädtern, zu meinem stählernen, westlichen Blau.

Und zu Großpapa. Die Flucht zu ihm war so einfach wie wirkungsvoll, wollte ich hin und wieder vergessen, was ich war.

»Ein Volk von pfeilschießenden Reitern sollten wir sein«, sagte der Alte und strich sich über den schweißnassen Schädel, den er immer hatte, wenn er mal wieder von »daheim« sprach. »Gott schütze uns vor den Pfeilen der Ungarn!, haben die Europäer gebetet und dabei den Kopf eingezogen, sie wußten ja nicht, ob zufällig wieder einer über sie hinwegpfiff. Unser Unglück hat damit begonnen, daß wir seßhaft geworden sind. Wir haben den Wanderer in uns ausgetrieben, aber zu rasch, und nicht gründlich genug: Was wandern will in uns, muß nun Alkohol schlucken, Alkohol oder Tabletten. Und wenn es zu lange in uns rumort und immer noch keine Ruhe gibt, wenn es schwimmt und nicht ertrinkt, tötet es uns. Wandre, sauf oder stirb!, frotzelt der kleine Ungar, der durch meine Leber irrt. Und mich immerzu zwickt.«