»Ja, mein Lieber.«
»Könnte sie nicht eines deiner Kleider tragen, wenn man sie ein bißchen verlängern würde? Sie scheint mir viel größer zu sein als du.«
Ein sichtbares Lächeln glitt über Mrs. Birds Züge, als sie antwortete: »Wir wollen es abwarten.«
Eine neue Pause, und schon begann Mr. Bird abermals:
»Hör einmal, liebe Frau!«
»Ja, was ist?«
»Da ist doch noch der alte Plüschmantel, den du immer noch aufhebst, um mich nach Tisch damit zuzudecken. Den könntest du ihr doch auch geben. Sie braucht Kleider.«
In diesem Augenblick trat Dinah ein, um zu melden, daß die Frau aufgewacht sei und bitten lasse, die gnädige Frau sprechen zu dürfen.
Mr. und Mrs. Bird gingen in die Küche, die beiden großen Jungen folgten ihnen, die kleinen hatte man inzwischen zu Bett gebracht.
Die Frau hatte sich auf ihrem Lager aufgerichtet. Sie blickte ruhig, mit einem stillen herzergreifenden Ausdruck in die Flammen, die frühere Wildheit war ganz verschwunden.
»Ihr wolltet mich sprechen?« sagte Mrs. Bird mit sanfter Stimme. »Ich hoffe, es geht Euch jetzt ein bißchen besser, arme Frau.«
Ein langer zitternder Seufzer war die einzige Antwort. Aber sie schlug die dunklen Augen auf und heftete sie mit einem so verlorenen und flehenden Ausdruck auf die Hausfrau, daß Mrs. Bird die Tränen aufsteigen fühlte.
»Ihr braucht Euch hier vor niemanden zu fürchten. Wir sind hier lauter Freunde, arme Frau. Sagt mir, wo Ihr herkommt und was Ihr hier wollt«, sagte sie freundlich.
»Ich kam von Kentucky«, antwortete das junge Weib.
»Wann?« fragte Mr. Bird, das Verhör übernehmend.
»Heute abend.«
»Wie gelangtet Ihr herüber?«
»Über das Eis.«
»Über das Eis!« riefen alle Anwesenden wie aus einem Munde.
»Ja«, sagte die Frau langsam, »ich kam über das Eis. Gott stand mir bei, da wagte ich es, denn sie waren mir hart auf den Fersen–ich hatte keine Wahl.«
»Aber, junge Frau«, sagte Cudjoe, »das Eis ist nicht fest, es ist in große Blocks gespalten und schwankt im Wasser auf und nieder.«
»Ich weiß, ich weiß«, erwiderte sie verstört, »aber ich kam dennoch. Ich hätte nicht gedacht, daß ich es könnte, ich hätte nicht gedacht, daß ich je herüberkäme, aber es war mir gleich. Dann wäre ich halt untergegangen, aber Gott stand mir bei. Keiner weiß, wie sehr uns Gott beisteht, wer es nicht erfahren hat«, sagte die Frau mit flammenden Augen.
»Wart Ihr eine Sklavin?« fragte Mr. Bird.
»Ja, mein Herr. Ich gehörte einem Herrn in Kentucky.«
»War er nicht gut zu Euch?«
»O doch! Er war ein guter Herr!«
»War Eure Herrin nicht gut zu Euch?«
»Doch, doch, sie war immer gütig.«
»Was hattet Ihr dann für Ursache, fortzulaufen, ein gutes Heim aufzugeben und Euch diesen Gefahren auszusetzen?«
Die Frau warf Mrs. Bird einen raschen, prüfenden Blick zu, es war ihr nicht entgangen, daß sie tiefe Trauer trug.
»Madam«, sprach sie plötzlich, »habt Ihr schon einmal ein Kind verloren?«
Diese Frage kam unerwartet und berührte eine frische Wunde, denn es war noch kein Monat vergangen, daß die Familie ihren kleinen Liebling zu Grabe getragen.
Mr. Bird wandte sich ab und ging zum Fenster, während Mrs. Bird in Tränen ausbrach, aber mit gefestigter Stimme sprach sie:
»Warum fragt Ihr? Wir haben vor kurzem einen Kleinen verloren.«
»Dann werden Sie es mir nachfühlen können. Ich habe zwei Kinder verloren, nacheinander, ihre Gräber mußte ich zurücklassen. Dieser allein war mir geblieben. Ich schlief keine Nacht ohne ihn, er war mein ein und alles. Er war mein Trost und mein Stolz, bei Tag und bei Nacht. Und da, Madam, wollten sie ihn mir nehmen — um ihn zu verkaufen — um ihn in den Süden zu verkaufen, mutterseelenallein, ein kleines Kind, das noch nie im Leben von seiner Mutter getrennt gewesen. Das ging über meine Kraft, Madam. Ich wußte, daß ich nie wieder etwas leisten würde ohne ihn, und als ich erfuhr, daß man die Papiere unterzeichnet hatte und er verkauft war, nahm ich ihn auf und lief mit ihm fort in die Nacht hinaus. Da haben sie mich verfolgt, der Mann, der ihn gekauft hatte, und einige von den Gutsleuten; sie kamen dicht hinter mir her, ich hörte sie schon. Da sprang ich über das Eis, und ich weiß nicht, wie ich hinüberkam. Das erste, was ich erfaßte, war, daß ein Mann mir das Ufer hinaufhalf.«
Die Frau weinte nicht und schluchzte nicht. Sie war in einem Zustand, wo keine Tränen mehr fließen, aber unter ihren Zuhörern war niemand, der nicht seine herzlichste Teilnahme zeigte. Die zwei kleinen Jungen hatten verzweifelt ihre Taschen durchstöbert, auf der Suche nach einem Taschentuch, das doch niemals, wie alle Mütter wissen, an dieser Stelle zu finden ist, um sich dann schluchzend in die Röcke der Mutter zu vergraben, wo sie sich verstohlen Augen und Nase abwischten. Mrs. Bird hatte ihr Gesicht hinter einem Taschentuch verborgen, während die alte Dinah, der die dicken Tränen über die schwarzen und ehrlichen Backen rollten, mit der Inbrunst eines Feldgeistlichen wiederholt ausrief:
»Gott, erbarme dich unser!« Worin der alte Cudjoe, sich die Augen mit dem Rockärmel reibend und unzählige Grimassen schneidend, sie ab und zu mit großem Eifer unterstützte. Unser Senator war ein Staatsmann, von ihm konnte man keine Tränen erwarten wie von anderen Sterblichen, daher kehrte er der Gesellschaft den Rücken und sah zum Fenster hinaus, wobei er sich immerfort räusperte und unaufhörlich seine Brillengläser blank rieb. Die Art, wie er sich wiederholt die Nase putzte, wäre einem kritischen Beobachter allerdings verdächtig vorgekommen, aber zum Glück war keiner zugegen.
»Wie kamt Ihr zu der Behauptung, Ihr hättet einen guten Herrn gehabt?« brach er plötzlich los, nachdem er ein Zusammenschnüren seiner Kehle energisch überwunden und sich jäh der Frau wieder zugewandt hatte.
»Ich werde immer dabei bleiben, daß er ein guter Herr war, und meine Herrin war unendlich liebevoll, aber sie konnten es nicht ändern. Sie hatten Schulden, und auf irgendeine Weise kam es, ich weiß es nicht genau, daß ein Mann Macht über sie erhielt und sie nach seinem Willen tun mußten. Ich horchte und hörte mit an, wie er es der Herrin mitteilte und wie meine Herrin für mich bat und flehte, als er sagte, es sei schon alles abgemacht, die Papiere seien bereits unterzeichnet; da ergriff ich das Kind und verließ das Haus und floh. Hätten sie ihre Absicht ausgeführt, hätte ich nicht weiterleben können, das Kind ist alles, was ich habe.«
»Habt Ihr keinen Mann?«
»Doch. Aber er gehört einem anderen Herrn. Und der ist sehr hart zu ihm und erlaubt kaum, daß er mich besucht. Und er behandelt ihn immer schlechter, und jetzt will er ihn in den Süden verkaufen. Da sehe ich ihn vielleicht niemals wieder.«
Der ruhige Tonfall, mit dem die Frau diese Worte sprach, hätte einen oberflächlichen Beobachter zu der Annahme verleiten können, daß sie völlig gefühllos sei, aber in ihren großen dunklen Augen sprach ein solch grenzenloser Jammer, der zu Herzen ging.
»Und wohin wollt Ihr nun, arme Frau?« fragte Mrs. Bird.
»Nach Kanada, wenn ich nur wüßte, wo das liegt. Ist es noch sehr weit weg, bis Kanada?« fragte sie und blickte vertrauensvoll auf Mrs. Bird.
»Armes Ding«, sagte Mrs. Bird unwillkürlich.
»Dann ist es also sehr weit weg?« fragte sie dringlich.
»Viel weiter, als Ihr Euch vorstellen könnt, mein armes Kind«, erwiderte Mrs. Bird. »Aber wir wollen überlegen, wie wir Euch helfen können. Komm, Dinah, richte ihr ein Bett in deinem Zimmer neben der Küche, und dann wollen wir sehen, was sich morgen früh tun läßt. So lange braucht Ihr keine Angst zuhaben, arme Frau. Vertraut auf Gott. Er wird Euch beschützen.«
Mrs. Bird kehrte mit ihrem Mann ins Wohnzimmer zurück. Sie setzte sich in ihren kleinen Schaukelstuhl und wippte nachdenklich auf und nieder. Mr. Bird schritt gedankenvoll im Zimmer auf und ab und sprach brummend vor sich hin: »Vertrackte Geschichte, Teufel nochmal.« Schließlich blieb er vor seiner Frau stehen und sprach: