»Hör mal, Mary, sie muß fort von hier, noch heute nacht. Der Kerl wird morgen früh todsicher auf ihrer Spur sein. Wäre es nur die Frau, die ist ja leise, die könnte man verborgen halten. Aber der kleine Bengel, das wette ich, läßt sich nicht von einem Regiment Soldaten in Schach halten. Der steckt doch irgendwann den Kopf zur Tür oder zum Fenster raus. Und dann haben wir den Salat, wenn sie die beiden gerade jetzt bei uns finden. Nein, wir müssen sie noch heute nacht fortbringen.«
»Noch heute nacht? Aber wie denn? Wohin?«
»Nun, das wüßte ich schon«, sagte der Senator, langsam und nachdenklich seine Stiefel wieder anziehend. Als er den einen halb zugeschnürt hatte, hielt er inne, umschlang seine Knie mit beiden Händen und versank in tiefes Grübeln.
»Es ist eine höchst peinliche, fatale Geschichte«, sagte er schließlich, seine Schuhbänder weiter einziehend, »soviel steht fest.« Als er endlich mit einem Stiefel fertig war, behielt er noch den andern gedankenverloren in der Hand und betrachtete aufmerksam die Figuren des Teppichs. »Ich muß es aber tun — da gibt es keinen Ausweg, hol's der Henker!« Und er zog rasch den zweiten an und blickte zum Fenster hinaus.
Nun war die kleine Mrs. Bird eine sehr zartfühlende Frau. Nie im Leben hätte sie gesagt: »Ich habe es ja gleich gesagt!« Und bei dieser Gelegenheit, wenn sie auch unschwer erraten konnte, welche Bahn die Gedanken ihres Mannes nahmen, hütete sie sich gar wohl, sich einzumischen, sondern saß statt dessen still in ihrem Stuhl, bereit, ihres Gebieters Ansichten zu hören, sollte er die Güte haben, sie ihr mitzuteilen.
»Weißt du«, sagte er, »ich denke an meinen alten Kunden van Trompe, der von Kentucky herüberkam, nachdem er alle seine Sklaven freiließ und sich sieben Meilen entfernt von hier am Creek eine Farm kaufte. Sie liegt mitten im Walde, wo niemand vorbeikommt und ist nicht leicht zu finden. Da würde sie gut aufgehoben sein. Das Dumme ist nur, daß nur ich dorthin fahren kann.«
»Aber warum? Cudjoe ist doch ein zuverlässiger Kutscher.«
»Das schon, aber die Sache ist die: man muß zweimal über den Creek, und die zweite Furt ist ziemlich gefährlich, es sei denn, man kennt sie so gut wie ich. Ich habe sie hundertmal zu Pferd durchquert und kenne jeden Stein. Es hilft also nichts. Cudjoe soll um Mitternacht so leise wie möglich anspannen. Dann will ich sie hinüberfahren, und er kann mich dann weiterfahren zur nächsten Poststation, wo ich zwischen drei und vier Uhr in die Postkutsche nach Columbus steigen kann, damit wir die Sache bemänteln und es den Anschein hat, als hätte ich nur deshalb anspannen lassen. Da bin ich also frühmorgens bereits wieder im Amt. Ich werde mir ja etwas komisch vorkommen, nach allem, was getan und gesprochen wurde, aber zum Kuk–kuck, ich kann nicht anders.«
»Dein Herz ist wieder besser als dein Kopf, John«, sagte seine Frau und legte ihre weiße kleine Hand auf die seine. »Wie hätte ich dich jemals liebgewonnen, wenn ich dich nicht besser kennte als du dich selber?« Die kleine Frau sah so reizend aus mit den tränenglänzenden Augen, daß der Senator ernstlich dachte, er müsse doch ein unbändig gescheiter Bursche sein, daß eine solch hübsche Frau eine so leidenschaftliche Bewunderung für ihn hegte. So konnte er gar nicht anders, als wortlos hinauszugehen und nach dem Wagen zu sehen. An der Tür jedoch hielt er inne, kam zurück und sagte zögernd:
»Mary, ich weiß nicht, wie du darüber denkst, aber in der Schublade sind doch alle die Sachen von unserem kleinen Henry«, dann drehte er sich eilig auf dem Absatz um und schloß die Tür hinter sich.
Seine Frau öffnete die kleine Schlafzimmertür neben ihrem Zimmer, ergriff die Kerze und setzte sie dort auf eine Kommode. Dann holte sie einen Schlüssel hervor und steckte ihn gedankenvoll in das Schloß einer Schublade.
Langsam zog Mrs. Bird sie auf. Da lagen Mäntelchen von verschiedener Form und Machart, Stöße von Schürzen und Reihen kleiner Strümpfe, auch ein Paar Schühchen, abgestoßen an den Spitzen, lugten aus einem Papier hervor. Daneben lagen ein Spielzeugpferdchen, ein Kreisel, ein Wägelchen und ein Ball — Andenken, die sie mit vielen Tränen zusammengetragen hatte. Sie ließ sich davor nieder, stützte ihren Kopf auf die Hände und weinte, bis ihr die Tränen durch die Finger in die Schublade fielen. Dann richtete sie sich rasch auf und begann in Eile die praktischsten und einfachsten Sachen auszusuchen und in einem Bündel zusammenzuschnüren.
Danach öffnete Mrs. Bird einen Schrank, dem sie ein — zwei praktische Kleider entnahm, und setzte sich sogleich an ihren Nähtisch, um mit Nadel, Schere und Fingerhut >das Auslassen< zu besorgen, das ihr Mann empfohlen hatte. Sie hörte erst auf, als die Uhr in der Ecke zwölf schlug und ein leises Wagenrollen vor der Haustür wahrnehmbar wurde.
»Mary«, sagte ihr Mann, mit seinem Mantel über den Arm hereintretend, »du mußt sie jetzt aufwecken. Wir müssen aufbrechen.«
Mrs. Bird barg alle zusammengesuchten Sachen in einem einfachen kleinen Koffer, schloß ihn ab und bat ihren Mann, ihn mit in den Wagen zu nehmen. Danach weckte sie die Frau. Es dauerte nicht lange, da erschien Eliza im Türrahmen, mit dem Kind auf dem Arm, angetan mit einem Umhang, Haube und Schal ihrer Wohltäterin. Mr. Bird schob sie eilig in den Wagen, während Mrs. Bird an die Wagentür trat. Eliza lehnte sich zum Fenster heraus und streckte ihre Hand aus — eine Hand, genauso zart und schön wie die, die ihrer begegnete. Sie heftete ihre großen dunklen Augen bedeutungsvoll auf Mrs. Bird und schien zum Sprechen anzusetzen. Ihre Lippen formten Worte, sie versuchte es ein paarmal, aber es drang kein Laut hervor. Da deutete sie stumm mit einem unvergeßlichen Blick nach oben, sank auf ihren Sitz zurück und bedeckte ihr Gesicht mit den Händen. Die Tür wurde geschlossen, und der Wagen fuhr davon. In welcher Lage befand sich unser patriotischer Senator, der die ganze Woche hindurch die Gesetzgebung seines Landes angespornt hatte, strengere Maßnahmen gegen flüchtige Sklaven und ihre Helfershelfer zu erlassen!
Unser guter Senator wäre in seinem Heimatstaate von keinem seiner Brüder in Washington an Beredsamkeit überboten worden, die sich in diesen Entscheidungen einen traurigen Ruhm erwarben. Mit welcher Überlegenheit hatte er mit den Händen in den Hosentaschen die sentimentalen Schilderungen und Beweise seiner Gegner verlacht, denen das Wohlergehen einer Handvoll armseliger Flüchtlinge wichtiger war als die hohen Staatsinteressen!
Kühn wie ein Löwe hatte er sich aufgeführt und nicht nur sich selbst, sondern auch alle anderen überzeugt, freilich hatte er nie eine lebendige Vorstellung gehabt. Dem Elend wirklich gegenüberzustehen, das flehende Menschenauge, die zitternde Hand, die verzweifelte Bitte in hilfloser Todesnacht hatte er noch nie erfahren. Er hatte nie gedacht, daß ein Flüchtling auch eine verzweifelte Mutter, ein unschuldiges Kind sein kann wie jenes, das jetzt seines Lieblings wohlbekannte kleine Mütze trug. Daher befand sich unser armer Senator — denn er war kein Mann von Stein, sondern ein Mensch und ein edler und warmherziger dazu — jetzt mit seinem Patriotismus in einem argen Zwiespalt.
Mochte er auch politisch gesündigt haben, in dieser Nacht tat er Buße. Es hatte lange Zeit geregnet, und der fruchtbare weiche Boden von Ohio eignet sich bekanntlich prächtig zu einem zähen Morast. Auch war der Weg ein rechter Ohioweg aus der guten alten Zeit.
»Bitte schön, wie ist ein solcher Weg beschaffen?« mag der östliche Leser fragen, dessen Vorstellung von einem Weg sich einzig mit Ebenheit und Geschwindigkeit verbindet.
»So wisse denn, ahnungsloser Freund aus östlichen Gefilden, daß man in den gesegneten Landstrichen des Westens, wo der Morast unvorstellbar tief und zähe ist, die Straßen aus runden, unbehauenen Baumstämmen herstellt, die man quer nebeneinanderlegt und in ihrer jungfräulichen Frische mit Erde, Rasen oder was sonst zur Hand ist bedeckt. Das nennt der Eingeborene dann frohlockend eine Straße und zögert nicht, sie sofort mit Pferd und Wagen zu benutzen.