»Verschwunden, Mr. Wilson, auf und davon mit dem Kind auf dem Arm, nach Norden. Der Himmel weiß, wohin. Wann wir uns wiedersehen, und ob wir uns wiedersehen, das vermag kein Mensch zu sagen.«
»Ist es möglich? Wie erstaunlich! Bei solch einer gütigen Familie!«
»Gütige Familien geraten in Schulden, und die Gesetze unseres Landes gestatten ihnen, der Mutter das Kind zu entreißen, um dem Herrn die Schulden zu decken«, sagte Georg bitter.
»So, so«, antwortete der ehrliche alte Mann und wühlte in seiner Tasche. »Vermutlich sollte ich meiner besseren Einsicht folgen–zum Teufel, ich mag ihr nicht folgen«, setzte er plötzlich hinzu. »Also hier, Georg«, und seiner Brieftasche ein Bündel Banknoten entnehmend, bot er sie Georg an.
»Nein, gnädiger Herr«, erwiderte Georg. »Ihr habt viel für mich getan. Ich möchte Euch nicht ins Unglück stürzen. Ich hoffe, ich habe Geld genug. Das wird mich ans Ziel bringen.«
»Nein, Georg, du mußt. Geld hilft dir überall. Man kann nie zuviel davon haben — solange man es auf ehrliche Weise erlangt. Nimm es, bitte, nimm es, steck es ein, mein Junge.« »Nur unter der Bedingung, daß ich es später einmal zurückzahlen kann«, sagte Georg und nahm das Geld an.
»Und nun, Georg, wie lange willst du reisen in dieser Gestalt? Es ist ja schlau gemacht, aber zu kühn. Und dieser Schwarze, wer ist denn das?«
»Ein treuer Bursche, der vor mehr als einem Jahr schon nach Kanada ging. Nachdem er dort war, erfuhr er, daß sein Herr so ergrimmt war über seine Flucht, daß er seine arme alte Mutter auspeitschen ließ. Da ist er den ganzen Weg zurückgekommen, um sie zu trösten und eine Gelegenheit zu suchen, um sie mitzunehmen.«
»Ist ihm denn das gelungen?«
»Noch nicht. Er ist um das Gut herumgestrichen und fand noch keine Möglichkeit. Inzwischen begleitet er mich nach Ohio zu Freunden, die ihm helfen, und dann kehrt er nochmals zurück.«
»Gefährlich, höchst gefährlich!« sagte der alte Herr.
Georg richtete sich auf und lächelte verächtlich.
Der alte Mann musterte ihn von Kopf bis Fuß und konnte ein unschuldiges Erstaunen nicht verbergen.
»Georg, du hast dich großartig verändert. Du trägst deinen Kopf hoch und sprichst und gehst wie ein anderer Mensch«, sagte er.
»Weil ich ein freier Mann bin«, erwiderte Georg stolz. »Ja, ich habe zum letztenmal in meinem Leben zu einem Menschen Gnädiger Herr< gesagt, jetzt bin ich frei.«
»Nimm dich in acht. Noch bist du nicht sicher. Noch können sie dich ergreifen.«
»Alle Menschen sind frei und gleich im Grabe, wenn es dazu kommt, Mr. Wilson.«
»Deine Kühnheit verschlägt mir tatsächlich den Atem. Geradewegs hier im ersten Gasthof abzusteigen!«
»Mr. Wilson, weil es so kühn ist und der Gasthof so nahe, werden sie nie darauf kommen. Sie suchen mich in weiter Ferne, und Ihr selbst hättet mich kaum erkannt. Jims Herr wohnt nicht in dieser Gegend, er ist hier völlig unbekannt. Außerdem hat man ihn aufgegeben, niemand sucht ihn mehr, und mich wird niemand nach dem Steckbrief entdecken.«
»Aber das Zeichen in deiner Hand?«
Georg streifte seinen Handschuh ab und zeigte eine frisch verheilte Narbe auf seiner Handfläche.
»Das ist ein Abschiedsgeschenk von Mr. Harris«, sagte er zornig. »Vor vierzehn Tagen ungefähr kam er auf den Gedanken, es mir zu verabreichen, es war ihm nicht geheuer mit mir. Sieht interessant aus, nicht wahr?« fügte er hinzu, den Handschuh wieder anziehend.
»Ich muß sagen, mir erstarrt das Blut in den Adern, wenn ich mir das ausmale, deine Lage und alle Gefahren!« entgegnete Mr. Wilson.
»Mir ist es viele Jahre in den Adern erstarrt, Mr. Wilson. Zur Zeit ist es beinahe am Kochen«, erwiderte Georg.
»Also, verehrter Mr. Wilson«, fuhr Georg nach kurzem Schweigen fort, »ich sah gleich, daß Ihr mich erkannt hattet. Da hielt ich es für das beste, Euch um diese Unterredung zu bitten, sonst hätten mich am Ende Eure erstaunten Blicke verraten. Ich werde morgen frühzeitig aufbrechen. Morgen abend gedenke ich sicher in Ohio zu schlafen. Ich werde bei Tageslicht reisen, in den besten Hotels einkehren und mit den Herren des Landes speisen. Lebt wohl, mein Herr. Solltet Ihr hören, daß man mich ergriffen hat, dann wißt Ihr, daß ich nicht mehr am Leben bin!«
Georg stand aufrecht wie ein Fels da und reichte dem alten Herrn die Hand mit der Gebärde eines Prinzen. Der freundliche, kleine alte Mann schüttelte sie herzlich, ergriff dann unter manchen Ermahnungen seinen Regenschirm und verließ umständlich das Zimmer.
Georg blickte nachdenklich auf die Tür, die sich hinter dem alten Mann geschlossen hatte. Plötzlich schien ihn ein Gedanke zu durchzucken. Eilig hastete er zur Tür, öffnete sie und rief:
»Mr. Wilson, bitte noch auf ein Wort.«
Der alte Herr kam zurück, und Georg verriegelte die Tür abermals. Dann stand er noch einen Augenblick unentschlossen da, ehe er mit plötzlicher Anstrengung den Kopf hob:
»Mr. Wilson, Ihr habt Euch gegen mich immer als ein Christ erwiesen, darf ich Euch noch um einen letzten Beweis Eurer Nächstenliebe bitten?«
»Gewiß, Georg.«
»Ach, Ihr habt ja recht. Ich begebe mich in große Gefahr. Keine Seele wird es kümmern, wenn ich sterbe«, sprach er und holte tief Atem. Dann fuhr er mit Anstrengung fort. »Sie werden mich wie einen Hund verscharren, und keiner wird mir noch einen Gedanken widmen — außer meiner armen Frau. Armes Herz! Sie wird trauern und sich grämen. Wenn Ihr es vermöchtet, ihr diese kleine Nadel zu senden. Sie schenkte sie mir zu Weihnachten, das arme Kind. Gebt sie ihr und sagt ihr, ich hätte sie geliebt bis an mein Ende. Wollt Ihr das, wollt Ihr das tun?« fragte er in tiefem Ernst.
»Aber natürlich, mein armer Freund!« antwortete der alte Herr, die Nadel nehmend, seine Augen waren feucht und seine Stimme bebte.
»Und sagt ihr das eine: Es sei mein letzter Wunsch, wenn sie die Möglichkeit hat, nach Kanada zu gehen, mag ihre Herrin noch so freundlich und ihre Heimat noch so traut sein, sie soll nicht bleiben. Sklaverei führt stets ins Elend. Sagt Ihr, sie möge unseren Sohn als freien Mann erziehen, damit er nicht so leidet wie wir. Ihr werdet ihr das ausrichten, nicht wahr, Mr. Wilson?«
»Ja, Georg, ich richte es aus. Aber ich bin überzeugt, du wirst nicht sterben. Faß Mut, du bist ein tapferer Mensch. Vertraue auf Gott. Ich wünschte, du hättest es schon geschafft, obgleich — ich wünschte es aufrichtig.«
»Gibt es einen Gott, dem man vertrauen kann?« fragte Georg im Tone so bitterer Verzweiflung, daß der alte Mann aufhorchte. »Oh, ich habe mein Leben lang Dinge gesehen, die mich an einem Gott verzweifeln ließen. Ihr Christen wißt nicht, wie uns die Dinge erscheinen. Für euch gibt es einen Gott, gibt es auch einen für uns?«
»O Georg, so darfst du nicht sprechen, nicht doch, nicht doch«, beschwor ihn der alte Herr fast schluchzend. »Natürlich gibt es einen Gott. Wolken und Finsternis umgeben ihn, aber Rechtschaffenheit und Gerechtigkeit sind seine Wohnungen. Es gibt einen Gott, Georg, glaube an ihn. Vertraue auf ihn, und er wird's wohlmachen. Alles wird gut enden, wenn nicht in diesem, dann im ewigen Leben.«
Die echte Frömmigkeit und Güte des alten Mannes verliehen seinen Worten Würde und Gewicht, Georg unterbrach seine Wanderung im Zimmer und blieb gedankenvoll stehen, dann sprach er ruhig:
»Ich danke Euch für diese Worte, guter Freund, ich werde sie bewahren.«
12. Kapitel
Ein ausgewähltes Beispiel aus dem erlaubten Handel
Mr. Haley und Tom zuckelten in ihrem Wagen dahin, beide eine Zeitlang ihren eigenen Gedanken nachhängend.
Haley dachte vor allem an Toms Länge und Breite und Höhe, welchen Preis er wohl erzielen würde, wenn er ihn fett und in gutem Zustand auf den Markt brächte. Er dachte weiter an den Transport, den er zusammenstellen wollte, an den jeweiligen Wert all der Männer, Frauen und Kinder, die ihn bilden sollten, und an ähnliche geschäftliche Dinge. Dann dachte er an sich selber und wie human es war, daß, während andere Händler ihre Nigger an Hand und Fuß fesselten, er Tom nur Fußschellen angelegt und ihm den Gebrauch seiner Hände gelassen hatte, solange er sich gut benahm, und Mr. Haley seufzte bei dem Gedanken, wie undankbar doch die Menschen waren, daß er nicht einmal sicher sein konnte, ob Tom auch seine Wohltat zu würdigen wisse. Er hatte schon manchen Nigger begünstigt, und immer hatten sie ihn betrogen, es blieb ein wahres Wunder, daß er immer noch so gutmütig war.