»Das ist aber ein feines Kerlchen«, sagte ein Mann, der plötzlich vor ihr stehenblieb, beide Hände in den Taschen. »Wie alt ist er?«
»Zehn und einen halben Monat«, antwortete die Mutter, und Stolz leuchtete aus ihren Augen.
Der Mann pfiff dem Kleinen und hielt ihm eine Zuckerstange hin, nach der er eifrig angelte, um sie alsbald in dem allgemeinen Aufbewahrungsort der kleinen Kinder, nämlich im Munde, verschwinden zu lassen.
»Großartiges Bürschchen!« sagte der Mann. »Der weiß, was er will.« Und er pfiff wieder und ging dann weiter. Als er an der anderen Schiffsseite anlangte, stieß er auf Haley, der rauchend über einem Haufen Kisten lehnte.
Der Fremde zog ein Streichholz hervor, zündete sich eine Zigarre an und sagte dabei: »Nettes Mädel habt Ihr da.«
»Ja, ich glaube, sie ist nicht übel«, antwortete Haley und blies den Rauch aus dem Mund.
»Nehmt Ihr sie hinunter in den Süden?« fragte der Mann. Haley nickte und rauchte schweigend.
»Als Plantagenhilfe?« fragte der Mann.
»Nun«, sagte Haley, »ich habe den Auftrag für eine Plantage auszuführen, und dabei kann ich sie wohl unterbringen. Sie behauptet ja, sie sei eine gute Köchin; sie können sie dafür einsetzen oder zum Baumwollpflücken nehmen. Dafür hat sie die richtigen Finger, ich habe sie mir angesehen. So oder so, die verkauft sich gut.« Und Haley widmete sich aufs neue seiner Zigarre.
»Den Kleinen werden sie auf der Plantage kaum gebrauchen können«, fing der Mann wieder an.
»Den werde ich bei der nächsten Gelegenheit verkaufen«, entgeg–nete Haley und zündete sich eine neue Zigarre an.
»Wahrscheinlich werdet Ihr ihn preiswert ablassen«, sagte der Fremde, bestieg eine der Kisten und ließ sich darauf nieder.
»Das will ich nicht sagen«, erwiderte Haley; »es ist ein besonders hübsches Kind — gerade, dick und kräftig; das Fleisch so fest wie ein Ziegelstein!«
»Stimmt schon, aber es bleiben die Scherereien und die Kosten des Aufziehens.«
»Unsinn!« sagte Haley. »Das zieht sich so mühelos auf wie alles Lebendige; das macht nicht mehr Umstände als junge Hunde. In einem Monat wird das Kerlchen laufen können.«
»Ich hätte eine gute Gelegenheit, es aufzuziehen«, sagte der Mann. »Eine Köchin bei mir verlor ihr Kleines vorige Woche — ertrank im Waschzuber, während sie draußen Wäsche aufhing — und ich denke, es wäre nicht schlecht, wenn ich ihr diesen Kleinen mitbrächte.«
Haley und der Fremde rauchten eine Weile schweigend, niemand schien gewillt, die strittige Frage anzuschneiden. Schließlich hub der Mann wieder an:
»Ihr werdet nicht mehr als zehn Dollar für den Kleinen verlangen, wo Ihr ihn doch losschlagen müßt.«
Haley schüttelte den Kopf und spuckte bedeutungsvoll aus.
»So geht das auf keinen Fall«, sagte er und rauchte weiter.
»Also Fremder, was verlangt Ihr denn?«
»Na, seht her«, sagte Haley. »Ich könnte das Kerlchen ja selber aufziehen oder aufziehen lassen; es ist ungewöhnlich hübsch und gesund, in einem halben Jahr brächte er mir schon hundert Dollar; und in ein, zwei Jahren bereits zweihundert, wenn ich es nur geschickt anstellte; also werde ich jetzt nicht einen Cent unter fünfzig Dollar ablassen.«
»O Fremder! Das ist ja zum Lachen!« sagte der Mann.
»Tatsache«, erwiderte Haley mit entschlossenem Kopfnicken.
»Ich werde dreißig für ihn geben«, sagte der Fremde.
»Na, dann werde ich Euch sagen, was ich tun will«, sprach Haley und spuckte mit erneuter Entschlossenheit aus. »Ich werde die Differenz teilen und fünfundvierzig sagen, weiter kann ich Euch nicht entgegenkommen.«
»Gut, abgemacht!« antwortete der Mann nach einer Pause.
»Erledigt!« sagte Haley. »Wo landet Ihr?«
»In Louisville.«
»Louisville«, wiederholte Haley. »Sehr schön. Dann kommen wir bei Einbruch der Dunkelheit an. Da schläft der Kleine — geht alles in Butter — man nimmt ihn leise — ohne Geschrei — macht sich großartig — ich erledige gern alles im stillen — Lärm und Aufregung sind mir verhaßt.« Nachdem einige Banknoten aus der Tasche des Mannes in die des Händlers gewandert waren, nahm dieser seine Zigarre wieder auf.
Es war ein heller ruhiger Abend, als der Dampfer an der Landestelle von Louisville anlegte. Die Frau hatte mit dem Kind im Arm, das jetzt in tiefem Schlummer lag, still dagesessen. Als sie den Namen der Stadt ausrufen hörte, legte sie das Kind hastig in eine kleine Wiege, die sie sich in dem Zwischenraum zweier Kisten zurechtgemacht hatte, nicht ohne vorher ihren Mantel daruntergebreitet zu haben, und dann eilte sie an die Reling in der Hoffnung, daß sie unter den verschiedenen Hoteldienern an der Landungsstelle ihren Mann entdecken könnte. In dieser Hoffnung drängte sie sich an das äußerste Geländer, lehnte sich weit hinüber und sah sich die Augen aus nach den Menschen am Ufer. Die Menge hatte sich zwischen sie und das Kind geschoben.
»Jetzt ist der rechte Augenblick«, sagte Haley, nahm das schlafende Kind auf und übergab es dem Fremden. »Weckt ihn ja nicht auf, sonst fängt er an zu schreien, und es gibt einen Höllenspektakel mit dem Mädchen.« Der Mann nahm das Bündel vorsichtig entgegen und war bald in der Menge verschwunden, die zur Landungsstelle drängte.
Als sich der Dampfer keuchend, pustend und stöhnend vom Kai entfernte und langsam seine Fahrt stromabwärts aufnahm, kehrte die Frau zu ihrem alten Platz zurück. Dort saß der Händler — das Kind war verschwunden!
»Warum, warum — wohin?« stammelte sie in bestürzter Überraschung.
»Lucy«, sagte der Händler, »dein Kind ist fort, du magst es nur gleich erfahren. Siehst du, du konntest es nicht mit in den Süden nehmen, und ich hatte Gelegenheit, es an eine erstklassige Familie zu verkaufen, die wird es besser aufziehen, als du es kannst!«
Die Frau schrie nicht, der Schuß hatte zu unmittelbar ihr Herz getroffen, Tränen und Geschrei halfen ihr nicht mehr.
Ganz betäubt setzte sie sich nieder. Schlaff ließ sie die Hände sinken. Ihre Augen starrten vor sich hin, aber sie sprach nichts. Der ganze Lärm, die Unruhe auf dem Schiff, das Stöhnen der Maschinen drangen an ihr Ohr; das arme schmerzerstarrte Herz hatte keine Tränen, keine Klage, seinen grenzenlosen Jammer zu äußern. Sie war ganz ruhig.
»Ich weiß, zuerst erscheint es sehr hart, Lucy«, sagte er, »aber so ein flottes, verständiges Mädchen wie du läßt sich nicht unterkriegen. Du wirst einsehen, daß es nötig war und nicht zu ändern ist!«
»Oh! Hört auf, Herr, hört auf!« bat die Frau mit erstickter Stimme.
»Du bist doch ein schmuckes Mädchen, Lucy«, fuhr er hartnäckig fort. »Ich meine es doch gut mit dir und will dir einen guten Posten stromabwärts besorgen, da wirst du bald einen neuen Mann finden — so ein stattliches Mädchen wie du — «
»O Herr, wenn Ihr nur jetzt nicht reden wolltet!« sagte die Frau mit einer Stimme von solch ergreifender Seelenqual, daß selbst der Händler spürte, hier war seine gewöhnliche Taktik fehl am Platze. Er erhob sich, und die Frau wandte sich und vergrub ihr Gesicht in ihrem Mantel.
Der Händler schritt eine Weile auf und ab, hielt gelegentlich inne und betrachtete sie.
»Nimmt es sich doch zu Herzen«, überlegte er, »wenn sie auch still ist; - mag sie sich grämen, mit der Zeit wird sie schon zu sich kommen.«
Tom hatte den ganzen Vorgang mitangesehn. Er kam heran und versuchte, sie zu trösten, aber sie stöhnte nur. In aufrichtiger Trauer, wobei ihm selber die Tränen über die Backen liefen, sprach er von dem liebevollen Herzen im Himmel, von Jesus, der mitleidet, und von der ewigen Heimat, aber ihr Ohr war betäubt in seinem Schmerz, und ihr Herz hatte kein Gefühl außer seiner namenlosen Qual.
Die Nacht brach herein — die ruhige, unbewegte herrliche Nacht, die mit ungezählten feierlichen Engelsaugen, schön und funkelnd herniederstrahlte. Aus diesem fernen Himmel drang kein Wort, keine Rede, keine mitleidige Stimme, keine helfende Hand. Eine nach der anderen erstarben die geschäftigen, die fröhlichen Stimmen; auf dem Dampfer schlief alles, deutlich schlugen die Wellen gegen den Bug. Tom streckte sich auf einer der Kisten aus. Im Liegen hörte er ab und zu das unterdrückte Schluchzen des verzweifelten Geschöpfs. — »Ach! Was soll ich nur machen! — O Herrgott, erbarme dich!«, so klang es fort, bis das Gemurmel verstummte.