Um Mitternacht fuhr Tom erschrocken aus seinem Schlummer auf. Etwas Schwarzes glitt rasch an ihm vorbei, zur Schiffsseite hin, und er hörte ein Plätschern im Wasser. Niemand sonst hatte etwas gesehen oder gehört. Tom hob den Kopf — der Platz der Frau war leer. Er erhob sich und spähte vergeblich umher. Das arme blutende Herz hatte endlich seine Ruhe gefunden, und der Strom rauschte und glitzerte so hell, als ob er sich erst gerade über ihm geschlossen hätte.
Der Händler erwachte frisch und frühzeitig und kam herauf, um nach seiner Menschenherde zu sehen.
»Wo, zum Kuckuck, ist das Mädchen?« sagte er zu Tom.
Tom, der die Weisheit des Schweigens gelernt hatte, fühlte keine Veranlassung, seinen Verdacht und seine Beobachtungen preiszugeben, und erklärte, er wüßte es nicht.
»Sie konnte sich in der Nacht bestimmt nicht davonstehlen an den Landeplätzen, denn ich war wach und stand auf der Lauer, wenn der Dampfer hielt. Das ist ein Amt, das ich niemand anderem überlasse.«
Diese Mitteilung war vertraulich an Tom gerichtet, als sei sie für ihn von besonderem Interesse. Tom gab keine Antwort.
Der Händler durchsuchte das Schiff von vorn bis hinten, er blickte zwischen die Kisten, die Ballen und Fässer, er spähte in den Maschinenraum, er suchte bei den Schornsteinen, alles vergeblich.
»Also hör einmal, Tom, sei jetzt mal offen«, sagte er, als er nach seiner ergebnislosen Jagd zu Tom zurückkam. »Du weißt doch etwas davon, bestreit es nicht — ich weiß es. Ich sah das Mädchen hier liegen, ungefähr um zehn Uhr, und noch um zwölf und noch zwischen ein und zwei Uhr; und dann um vier Uhr war sie verschwunden. Du aber hast hier die ganze Zeit geschlafen. Also, du mußt etwas wissen.«
»Nun, Herr«, sagte Tom, »im Morgengrauen huschte etwas vorbei, und ich wurde halb wach; danach hörte ich ein Plätschern, da wachte ich vollends auf, und das Mädchen war verschwunden. Das ist alles, was ich weiß.«
Der Händler war weder entsetzt noch verwundert, denn wie wir bereits erwähnten, war er an manche Dinge gewöhnt, an die ein anderer nicht gewöhnt ist. Selbst die erhabene Gegenwart des Todes flößte ihm keine Ehrfurcht ein. Er hatte den Tod schon oft gesehen — geschäftlich, er kannte ihn gut. Der Tod war ihm ein unangenehmer Kunde, der ihm sein Geschäft böswillig verdarb. Also fluchte er nur, das Mädchen hätte nichts getaugt, er hätte teuflisches Pech, und daß er, wenn das so weiterginge, an dem ganzen Transport nicht einen Cent verdienen werde. Kurz gesagt, er fühlte sich entschieden betrogen; aber es ließ sich nicht ändern. Die Frau war in ein Reich geflüchtet, das keinen Flüchtling je herausgibt. Also setzte sich der Händler mit seinem kleinen Kontobuch mißvergnügt hin und trug die verlorene Summe unter der Überschrift >Verluste< ein.
13. Kapitel
Das Quäkerdorf
Jetzt eröffnet sich eine ruhige Szene. Eine große, geräumige, sauber gestrichene Küche mit gelbem, glänzendem und glattem Fußboden, auf dem kein Stäubchen liegt; ein schmucker, gutgeschwärzter Küchenherd; Reihen blinkender Töpfe, die dem Appetit herrliche Dinge verheißen; glänzend grüne Holzstühle, alt und fest; ein kleiner, strohgeflochtener Schaukelstuhl mit einem Kissen, aus lauter Wollresten in den verschiedensten Farben säuberlich zusammengesetzt, und ein ebensolcher, nur größer, mütterlicher und alt, dessen weite Lehnen einladend wirken, unterstützt von der freundlichen Aufforderung seiner Federkissen — ein richtiger, behaglicher, tröstlicher alter Stuhl, in dem es sich bequemer ausruhen läßt als in einem Dutzend feiner Plüsch–und Brokatgestelle, die eure Salons bevölkern. Und in diesem Stuhl, sich sanft auf und ab schaukelnd, eine feine Handarbeit im Schoß, saß unsere gute Freundin Eliza. Ja, sie war es, blasser und dünner geworden als in ihrem Heim in Kentucky, im Schatten ihrer langen Wimpern lagerte ein stiller Schmerz, der sich auch in den Umrissen ihres sanften Mundes abzeichnete. Es war deutlich zu sehen, wie in der Zucht des Schmerzes ihr mädchenhaftes Herz gewachsen und gefestigt war. Als sie jetzt die dunklen Augen aufschlug, um den lustigen Sprüngen des kleinen Harry zu folgen, der wie ein bunter Schmetterling über den Boden hüpfte, spiegelte sich darin eine ruhige und tiefe Entschlußkraft, die ihr in ihren früheren und glücklicheren Tagen völlig fremd gewesen war. Ihr zur Seite saß eine Frau mit einer blanken Zinnschüssel im Schoß, in der sie sorgfältig getrocknete Pfirsiche sortierte. Sie mochte fünfundfünfzig oder sechzig Jahre alt sein, aber ihr Gesicht gehörte zu denen, welche die Zeit nur verschönern und erleuchten kann. Das schneeweiße Spitzenhäubchen, nach schlichtem Quäkerschnitt gefertigt, das einfache, weiße Musselintuch, das hübsch gefaltet über ihrer Brust lag, das naturfarbene Kleid verrieten sofort, zu welcher Gemeinschaft sie gehörte. Ihr Gesicht war rund und rosig, von einer gesunden, samtenen Weichheit, die an einen Pfirsich gemahnte. Ihr Haar, vom Alter leicht versilbert, war glatt aus einer hohen, ruhigen Stirn zurückgebürstet, auf welche die Zeit nur dieses eine eingegraben hatte: Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen; darunter leuchtete ein großes Paar klarer, aufrichtiger, liebevoller, brauner Augen; man brauchte nur hineinzusehen, um zu wissen, daß man auf den Grund eines Herzens blickte, wie es in keiner Frau besser und wahrer schlagen konnte. Von schönen jungen Mädchen wird so viel gesagt und gesungen, warum spricht niemand von der Schönheit alter Frauen? Wer sich hierfür erwärmen will, mag getrost zu Rachel Halliday gehen, wie sie dasitzt in ihrem kleinen Schaukelstuhl. Dieser Stuhl hatte eine besondere Art, zu quietschen und zu knarren — vielleicht hatte er sich in seiner Jugend erkältet oder litt jetzt an Asthma, oder war mit seinen Nerven nicht ganz in Ordnung; aber während Rachel sanft darin auf und ab schaukelte, gab der Stuhl eine Art quäkender Melodie von sich, die bei jedem anderen unerträglich gewesen wäre. Aber der alte Simeon Halliday hatte oft erklärt, es sei ihm die liebste Melodie, und die Kinder beteuerten alle, daß sie um keinen Preis der Welt Mutters quietschenden Stuhl entbehren möchten. Und warum? Seit mehr als zwanzig Jahren waren von diesem Stuhl aus nur liebevolle Worte ausgegangen — unzähliges Kopf–und Herzweh war dort geheilt — weltliche und gesetzliche Schwierigkeiten dort gelöst worden -, alles von einer guten, liebevollen Frau.
»Also beabsichtigst du noch immer, nach Kanada zu gehen, Eli–za?« fragte Rachel, als sie ruhig ihre Pfirsiche durchsah.
»Ja, Madam«, sagte Eliza entschlossen. »Ich muß weiterziehen. Ich wage nicht hierzubleiben.«
»Und was hast du vor, wenn du dort angekommen bist? Das mußt du dir auch überlegen, meine Tochter.«
>Meine Tochter<, floß Rachel Halliday ganz natürlich von den Lippen, denn ihr Gesicht und ihre Gestalt verkörperten auf natürlichste Weise das Wort >Mutter<.
Elizas Hände zitterten, und ein paar Tränen fielen auf ihre feine Handarbeit, aber sie antwortete fest:
»Ich werde jede Arbeit annehmen, die ich finden kann. Ich hoffe, daß ich etwas finde.«
»Du weißt, du kannst hierbleiben, solange du magst.«
»Oh, ich danke Ihnen«, erwiderte Eliza, »aber« - sie deutete auf Harry - »ich kann nachts nicht schlafen, ich finde keine Ruhe. Vorige Nacht habe ich geträumt, ich sah jenen Mann auf den Hof kommen«, sagte sie schaudernd.
»Armes Kind!« sagte Rachel und wischte sich die Augen. »Aber du mußt keine Angst haben. Der Herrgott hat es so gefügt, daß aus unserem Dorf noch nie ein Flüchtling gestohlen wurde. Da sollst du nicht die erste sein.«