Miß Ophelia war die absolute Sklavin des >du sollst<. War sie einmal überzeugt, in welcher Richtung der Pfad der Pflicht, wie sie es zu nennen liebte, verlief, so konnten weder Wasser noch Feuer sie davon abhalten. Sie würde stracks in einen Brunnen oder unbeirrt vor die Öffnung einer geladenen Kanone laufen, wenn sie nur wüßte, daß dieser Pfad dorthin führe. Ihr Rechtsbegriff war so hoch, so allumfassend und genau, er machte der menschlichen Schwäche so wenig Zugeständnisse, daß sie trotz heldenhafter Anstrengung ihn tatsächlich nie erfüllte und deshalb stets von dem nagenden Bewußtsein ihrer Unvollkommenheit besessen war. Dies gab ihrem religiösen Charakter einen strengen und düsteren Hintergrund.
Aber wie in aller Welt verträgt sich Miß Ophelia mit Augustin St. Clare — der so heiter, unbekümmert, unpünktlich, unpraktisch und skeptisch war? Der frech und liebenswürdig alle ihre behüteten Gewohnheiten und Meinungen über den Haufen warf?
Um die Wahrheit zu sagen: Miß Ophelia liebte ihn. Als Knabe hatte sie ihn im Katechismus unterwiesen, seine Kleider ausgebessert, ihm die Haare gebürstet und ihm den rechten Weg gezeigt; da auch ihr Herz eine weiche Stelle hatte, hatte sich Augustin, wie er das bei den meisten Menschen zu tun pflegte, dort sogleich eingenistet; daher war es ihm ein Leichtes gewesen, sie zu überzeugen, daß der Pfad der Pflicht nach New Orleans führte, daß sie ihn begleiten müsse, um Eva zu erziehen und seinen Hausstand vor Verfall und Ruin zu schützen, solange seine Frau noch kränklich war. Die Vorstellung eines Hauses, dem niemand vorstand, ging ihr zu Herzen, außerdem liebte sie das reizende kleine Mädchen, wie das den meisten Menschen erging, und wenn sie auch Augustin für einen Heiden hielt, so liebte sie ihn trotzdem, lachte über seine Späße und sah ihm seine Fehler in einer Weise nach, die alle, die sie kannten, für unmöglich hielten. Was nun noch weiter an Miß Ophelia zu erforschen ist, muß der Leser nach persönlicher Bekanntschaft selbst entdecken.
Wir finden sie jetzt in ihrer Kabine, umgeben von einer Unmenge von kleinen und großen Reisetaschen, Körben und Schachteln, alle gefüllt mit wichtigen Dingen, die sie mit ernstem Stirnrunzeln auf–und zuband, einpackte und befestigte.
»Na, Eva, hast du deine Sachen gezählt? Natürlich nicht, Kinder tun das nie. Also da ist die gepunktete Reisetasche und die kleine blaue Hutschachtel mit deinem besten Häubchen — das macht zwei, die Gummitasche sind drei, mein Nadelkästchen vier, meine Hutschachtel fünf und meine Kragenschachtel sechs und der kleine Koffer macht sieben. Wo hast du deinen Sonnenschirm? Gib ihn her, ich wickle ihn ein und befestige ihn an meinem Regenschirm–so geht es.«
»Aber Tantchen — wir gehen doch nach Hause; wozu das alles?«
»Damit alles hübsch in Ordnung bleibt, mein Kind; man muß seine Sachen schonen, wenn man es zu etwas bringen will im Leben. Und nun, Eva, ist dein Fingerhut eingepackt?«
»Wahrhaftig, Tantchen, das weiß ich nicht.«
»Na, das macht nichts; ich werde in deinem Handarbeitskästchen nachsehen; Fingerhut, Wachs, zwei Garnrollen, Schere, Messer, Bandnadel; gut, steck es ein. Was hast du nur angefangen, Kind, als du mit deinem Papa allein gereist bist? Ich könnte mir denken, du hast alles verloren.«
»Doch, Tantchen, ich habe auch eine Menge verloren. Wenn wir unterwegs anhielten, hat Papa mir dann alles wieder gekauft.«
»Gott bewahre mich, Kind! Was ist das für eine Art!«
»Das war eine höchst einfache Art, Tantchen«, sagte Eva.
»Das ist schrecklich liederlich«, erwiderte Tantchen.
»Aber, Tantchen, was tust du da?« fragte Eva. »Der Koffer ist zu voll, der geht nicht zu.«
»Er muß zugehen«, sagte Tantchen mit der Miene eines Generals, sie zwängte die Sachen hinein und setzte sich auf den Deckel, aber noch immer klaffte ein Spalt unter dem Kofferdeckel.
»Stell dich hier drauf, Eva!« sagte Miß Ophelia ermutigend, »was sein muß, muß sein. Dieser Koffer muß zugehen und zugeschlossen werden — da bleibt uns keine Wahl.«
Da gab der Koffer nach. Zweifellos hatte ihn dieser Ausspruch eingeschüchtert. Der Riegel schnappte ein; Miß Ophelia drehte den Schlüssel um und steckte ihn triumphierend in die Tasche.
»Jetzt sind wir soweit. Wo ist der Papa? Es wird Zeit, das Gepäck hinaufzutragen. Sieh einmal, Eva, ob du den Papa nicht findest.«
»Ja gewiß, er ist drüben in der Herrenkabine und ißt eine Apfelsine.«
»Dann weiß er nicht, daß wir gleich da sind«, sagte Tantchen; »willst du nicht lieber hinlaufen und ihm Bescheid sagen?«
»Papa hat es nie eilig«, antwortete Eva. »Wir haben ja noch nicht angelegt. Komm an das Geländer, Tantchen. Sieh dort! Da ist unser Haus, oben an der Straße!«
Der Dampfer machte jetzt Anstalten mit heftigem Stöhnen, wie ein riesiges müdes Ungeheuer, sich zwischen die zahlreichen Fahrzeuge an der Landungsstelle zu drängen. Eva deutete fröhlich auf die verschiedenen Türme, Dome und Wahrzeichen ihrer Heimatstadt.
»Ja, ja, mein Goldkind, sehr hübsch«, sagte Miß Ophelia. »Aber der Himmel bewahre uns! Das Schiff legt an! Wo ist dein Vater?«
Nun folgte der übliche Landungstrubel — Kellner, die zwanzig verschiedene Wege auf einmal liefen — Männer, die Koffer, Reisetaschen und Schachteln schulterten — Frauen, die ängstlich nach ihren Kindern riefen — alles das wälzte sich dichtgedrängt zum Landungssteg, der an Land führte.
Miß Ophelia setzte sich aufrecht auf den vorhin überwältigten Koffer, ließ alle ihre Habseligkeiten in schöner militärischer Ordnung aufmarschieren und schien entschlossen, sie aufs äußerste zu verteidigen.
»Soll ich Ihren Koffer tragen, Madam?« »Soll ich Ihr Gepäck befördern?« »Kann ich Ihr Gepäck versorgen. Missis?«
»Soll ich Ihre Sachen mitnehmen, Missis?« Die Fragen nagelten auf sie ein, sie beachtete sie nicht. Da saß sie in grimmiger Entschlossenheit, so aufrecht wie eine in ein Brett gesteckte Stopfnadel, hielt ihr Bündel Sonnen–und Regenschirme umklammert und antwortete den Trägern mit einer Entschiedenheit, die selbst einen Droschkenkutscher entrüsten konnte. Dazwischen äußerte sie Eva ihr Befremden, »was in aller Welt sich nur Papa denken mochte«; »er konnte doch nicht ins Wasser gestürzt sein« - »aber etwas mußte doch geschehen sein.« - Als sie gerade anfing, sich ernstlich Sorgen zu machen, kam St. Clare glücklich heran, sorglos und ohne Hast, wie immer. Er gab Eva ein Viertel seiner Apfelsine und sagte:
»Na, Kusine, bist du fertig?«
»Ich bin schon seit einer Stunde fertig und warte hier«, antwortete Miß Ophelia, »ich habe mir schon Sorgen um dich gemacht.«
»Jetzt ist es eine Kleinigkeit«, sagte er. »Der Wagen wartet, und das Gedränge ist vorbei. Jetzt kann man bequem und auf christliche Weise an Land gehen und wird nicht geschubst und gestoßen. Hier«, wandte er sich an den hinter ihm stehenden Kutscher, »nimm die Sachen.«
»Ich werde mitgehen und sehen, wie er alles verstaut«, sagte Miß Ophelia.
»Ich bitte dich, Kusine, wozu denn?«
»Auf jeden Fall nehme ich dies und dies und dies lieber selber«, sagte Miß Ophelia und ergriff drei Schachteln und eine kleine Reisetasche.
»Teuerste Kusine, das ist hier unmöglich. Du mußt dich schon ein wenig an unsere südländischen Sitten gewöhnen und nicht mit solcher Last an Land gehen. Man hält dich ja für eine Kammerzofe. Überlaß das diesem Burschen, er wird es tragen, als seien es rohe Eier.«