»Nein«, erwiderte Tom fest. »Nein! Niemals entsteht Gutes aus Bösem. Lieber schlüge ich mir die rechte Hand ab.«
»Dann werde ich es tun«, sagte Cassy und drehte sich um.
»Oh, Frau Cassy!« flehte Tom und warf sich vor ihr zu Boden. »Nur Übel kann daraus entstehen. Der liebe Gott hat uns nicht zur Rache bestellt. Wir müssen leiden und seine Zeit erwarten und unsere Feinde lieben.«
»Lieben?« sagte Cassy mit wildem Funkeln, »solche Feinde? Das ist wider die Natur!«
»Nein, Frau«, entgegnete Tom aufblickend, »er verleiht uns die Kraft, und dann ist der Sieg unser. Wenn wir lieben und leben können trotz allem und für alle, dann ist der Sieg unser.«
Cassy stand schweigend da, während große, schwere Tränen aus ihren gesenkten Augen tropften.
»Aber Frau Cassy«, sprach Tom zögernd, nachdem er sie eine Weile prüfend angesehen hatte. »Wenn Ihr doch von hier weggehen könntet — wenn es sich machen ließe -, dann würde ich Euch und Emmeline dazu raten, das heißt, wenn Ihr ohne Blutvergießen gehen könntet — anders nicht.«
»Würdet Ihr es mit uns versuchen, Vater Tom?«
»Nein«, sagte Tom, »es hat eine Zeit gegeben, da hätte ich es getan; aber jetzt habe ich hier unter den Armen eine Aufgabe. Bei ihnen will ich bleiben und mein Kreuz tragen bis zum Ende. Bei Euch ist es etwas anderes; Ihr geht daran zugrunde — es ist mehr, als Ihr tragen könnt, es ist besser, wenn Ihr geht.«
Cassy hatte oft Stunden damit zugebracht, alle möglichen Fluchtpläne zu ersinnen, um sie alle wieder als unausführbar und hoffnungslos fallenzulassen; aber in diesem Moment zuckte in ihrem Geist ein Plan auf, so einfach und in allen Einzelheiten durchführbar, daß sich eine erste Hoffnung in ihr regte.
»Vater Tom, ich werde es versuchen!« sagte sie plötzlich.
»Amen!« sagte Tom. »Gott stehe Euch bei.«
38. Kapitel
Der Fluchtplan
Der Bodenspeicher in Legrees Haus war wie die meisten Speicher ein großer, öder, staubiger Raum, von Spinnweben durchzogen und vollgestellt mit altem Gerümpel. Die reiche Familie, die das Haus in der Zeit seines Glanzes bewohnte, hatte eine Menge prächtiger Möbel angeschafft, von denen sie einige mitgenommen, andere in den unbenutzten, modrigen Räumen zurückgelassen oder hier oben verstaut hatte. Zwei von den riesigen Holzverschlägen, in denen diese Möbel verpackt gewesen, standen auf beiden Seiten des Speichers. Durch die trüben, schmutzigen Scheiben eines kleinen Fensters fiel ein unsicheres Licht auf große, hochlehnige Stühle und verstaubte Tische, die einst bessere Tage gesehen. Im ganzen war es ein wenig einladender, spukhafter Ort, und es fehlte auch nicht an Schauermärchen bei den abergläubischen Negern, um seine Schrecken noch zu steigern.
Allmählich wurde die Treppe, die zum Speicher führte, ja selbst der Flur vor der Treppe von allen im Hause gemieden; jeder scheute sich, davon zu sprechen. Da fiel es Cassy plötzlich ein, sich Leg–rees abergläubische Erregbarkeit zum Zwecke ihrer und ihrer Leidensgenossin Flucht zunutze zu machen.
Cassys Schlafgemach befand sich unmittelbar unter dem Speicher. Eines Tages machte sie sich plötzlich daran, ohne Legree weiter zu fragen, mit großem Aufwand ihre Möbel und Habseligkeiten aus diesem Raum in einen weit entlegeneren zu transportieren. Die Dienstboten, die sie zu diesem Wechsel bestellt hatte, rannten mit großem Eifer und Getöse hin und her, als Legree von seinem Ritt zurückkehrte.
»Hallo, Cass!« rief er, »woher weht denn jetzt der Wind?«
»Von nirgends; ich habe mir nur eine andere Stube ausgesucht«, erwiderte Cassy trotzig.
»Und weshalb, bitte schön?« fragte Legree.
»Weil es mir so paßt«, sagte Cassy.
»Zum Teufel! Weshalb?«
»Um hin und wieder auch einmal zu schlafen.«
»Zu schlafen? Wer hindert dich am Schlafen?«
»Ich könnte es dir schon sagen, wenn du es wissen willst.«
»So sprich doch!« drängte Legree.
»Oh, es ist nichts weiter. Dich würde es vermutlich nicht stören. Ich hörte nur ein Stöhnen da oben und Leute, die mit den Füßen schlurfen und die halbe Nacht über den Speicherboden rollen.«
»Leute auf dem Speicher?« fragte Legree beunruhigt, aber mit erzwungenem Lachen; »was für Leute, Cassy?«
Cassy schlug ihre scharfen, schwarzen Augen auf und sah Legree mit einem Ausdruck ins Gesicht, der ihm durch alle Knochen fuhr, während sie zur Antwort gab: »Ja, Simon, was für Leute? Ich hätte gern, wenn du es mir sagtest. Du wirst es aber wahrscheinlich nicht wissen! Aber wenn du in dem Zimmer schlafen willst, wirst du wissen, was los ist. Vielleicht versuchst du es einmal!« Und sofort hatte sie die Tür geschlossen und verriegelt.
Legree tobte, fluchte und drohte, die Tür einzubrechen; aber anscheinend besann er sich eines Besseren und ging beunruhigt in sein Wohnzimmer. Cassy stellte fest, daß ihr Pfeil getroffen hatte; und seit dieser Stunde versäumte sie nie wieder, mit aller Umsicht an diesem Faden weiterzuspinnen.
In einem Astloch des Speichers befestigte sie einen alten Flaschenhals derart, daß bei dem geringsten Lufthauch ein trauriges, langgezogenes Wehgeheul entstand, welches bei stärker werdendem Wind zu einem Kreischen anschwoll und abergläubischen Ohren leicht als ein Schreien des Entsetzens und der Verzweiflung erscheinen konnte.
Auch die Dienerschaft vernahm diese Geräusche von Zeit zu Zeit, und die Erinnerung an die alte Spukgeschichte erstand zu neuem Leben. Ein schleichendes Entsetzen schien durch das Haus zu kriechen; wenn keiner wagte, es Legree gegenüber zu erwähnen, so fand er sich doch davon eingehüllt wie von einer Luftschicht.
Durch seinen Zusammenprall mit Tom war in Legree das schlummernde moralische Element geweckt worden — geweckt nur, um von der Kraft des Bösen entschlossen bekämpft zu werden; aber in die Verstocktheit und Finsternis seiner Seele war Bewegung gekommen. Jedes Wort, Gebet oder Choral, löste in ihm eine abergläubische Furcht aus.
Neuerdings war Cassy ihm gegenüber gereizter und entschlossener geworden, der halbe Wahnsinn ihres Gemüts gab jedem ihrer Worte eine seltsame, schillernde, unstete Bedeutung.
Zwei Nächte später saß Legree unten in seinem alten Wohnzimmer neben einem flackernden Holzfeuer, das seinen unruhigen Schein ins Zimmer warf. Es war eine von den stürmischen, windbewegten Nächten, die in jedem alten, windschiefen Hause unzählige unbestimmte Geräusche hervorrufen. Fenster rüttelten, Läden klapperten, der Wind heulte und rumpelte, fuhr polternd in den Schornstein hinein und blies immer wieder Rauch und Asche hoch, als ob eine ganze Teufelshorde hinter ihm drein stolperte. Legree hatte einige Stunden mit Aufstellen von Rechnungen und Zeitungslesen zugebracht, während Cassy in ihrer Ecke saß und finster ins Feuer starrte. Jetzt legte Legree die Zeitung fort und sah ein altes Buch auf dem Tisch liegen, das Cassy zuvor gelesen hatte; er nahm es auf und blätterte darin. Es war eine jener Sammlungen von Erzählungen blutiger Mordtaten, Spukerscheinungen und Geisterbeschwörungen, die roh zurechtgezimmert und illustriert jeden Leser seltsam faszinieren, sobald er mit Lesen angefangen.
Legree rümpfte verächtlich die Nase, aber er las und wendete eine Seite nach der andern um, bis er das Buch schließlich halb durchgelesen mit einer Verwünschung hinwarf.
»Du glaubst doch nicht an Geister, Cass, wie?« sagte er, den Feuerhaken aufnehmend, um das Feuer zu schüren. »Ich hätte ja nicht gedacht, daß du so unvernünftig bist und dich von Geräuschen ängstigen läßt.«
»Es ist doch wohl egal, was ich glaube«, erwiderte Cassy abweisend.
»Die Kameraden auf See wollten mir mit ihren Geschichten auch immer einen Schrecken einjagen«, sagte Legree. »Damit kamen sie aber bei mir an den Verkehrten. Für solchen Unfug war ich zu abgebrüht, kann ich dir sagen.«