Doch das eigentliche Interesse der Helfer gilt den Dingen. Auf den ersten Blick gibt es in Tiflis gar keine Dinge. Keine Auslagen in den Schaufenstern, die Häuser leer wie Beduinenzelte, doch in Richtung N.E.R. fließt ein unablässiger Strom von Diamanten, Smaragden, Rubinen, silberverzierten Dolchen, georgischen und anatolischen Teppichen, Teppichen aus Persien und Turkestan, Uhren, Filigranarbeiten, silbernen Handtaschen, Pelzen, Bernstein, den Mustafa-Sirdar-Papieren, Fotoapparaten, Füllfederhaltern. Mein Gott, wie günstig! Für einen Koffer voll Rubel kann man sich für sein ganzes Leben eindecken. Die Leute daheim werden große Augen machen, wenn ich erzähle, was die Brilliantbrosche gekostet hat, die ich meiner Frau mitgebracht habe.
Und die graugesichtigen Leute, die diese Dinge herbeitragen, alte Männer und Frauen, die Angst haben vor der Tscheka, vor Banditen, vor der Cholera, vor ihren Schatten, Trümmer einer zerstörten Welt, die, um etwas zu essen zu haben, Dinge verkaufen, die bis 1917 die Grundlage ihrer Existenz gewesen waren; arrogante junge Männer, die sich auf die Seite des Siegers geschlagen haben und gut dabei wegkommen; Berufsspekulanten, meistens, aber nicht immer, Griechen, Armenier oder Juden, Männer mit scharfen Augen und Hakennasen, in schäbige Mäntel gekleidet, den Rücken krumm vor Respekt und Höflichkeit, die sich die Hände rieben, die nie einen Geldschein weggaben, wie wertlos die Währung auch sein mochte, Männer, die große Banken gründen werden, Philanthropen und die Gründer internationaler Familien. So billig, so billig!
Und der Stolz und die Tugendhaftigkeit der N.E.R.ler, die sich durch ihre Unterschrift verpflichtet haben, keinen Alkohol zu trinken, die unter Einsatz des eigenen Lebens der notleidenden Menschheit helfen, die sich der Ansteckungsgefahr von Bolschewismus, Kommunismus, freier Liebe, verstaatlichten Frauen, Anarchie und weiß Gott was aussetzen – ihr tugendhafter Stolz auf den Dollar, König der Wechselkurse, mit dem sie sich über die Dinge beugen: Teppiche, aus den Moscheen gestohlen, Lampen aus den Kirchen, Perlen vom Hals einer abgeschlachteten Großherzogin, der Pelzmantel einer armen alten Frau, die hungrig in ihrer dürftigen Stube sitzt und durch eine Ritze im Fensterladen hinausschaut auf diese furchtbare Welt der Jungen, eine Welt, rauh und leidenschaftlich und grob, die sie nie verstehen wird, eine alte Frau, die durch den Fensterladen blickt mit den Augen einer Katze, die von einem Automobil überfahren wurde.
7. Die Drahtseilbahn
Die Drahtseilbahn wird noch immer von dem unvermeidlichen belgischen Unternehmen betrieben. Fahrscheine gibt es bei einer kleinen jungen Polin, adrett wie eine weißgekleidete Maus. Statt Strümpfen an den Beinen eine gesunde Bräune. Sie klagt über den Mangel an Puder und Seidenstrümpfen und fragt sich, was sie tun soll, wenn ihre Schuhe abgetragen sind. Die Kabine ruckelt quietschend bergan. Hoch über der Stadt weht ein starker Kontinentalwind.
Nach einer Wanderung in den Bergen sitze ich vor einer kleinen Taverne, auf dem Tisch vor mir eine Flasche Kakhetia Nr. 66. Die Altstadt von Tiflis, staubfarben, hier und da ein Tupfer von Blau oder Weiß an einem Haus, erstreckt sich weitläufig über dem Trichter, aus dem sich der Kupferdrahtfluss in die Ebene ergießt. Aus der Senke steigt eine Dampfwolke von den Schwefelquellen auf. Dahinter die enormen grauen Gebäude der russischen Stadt in der Ebene. Im Tal hintereinander geschichtete Hügelkuppen, ocker und olivfarben, in der Ferne ins Blaue gehend, bis sie mit den hohen Gipfelketten des Kaukasus verschmelzen, die sich wie eine Barriere gegen den Norden erheben. Der mächtige Wind, der unablässig von Asien her weht, ein Wind so stark, dass er einem fast marmorgeädert erscheint, ein Wind von unvorstellbarer Weite, heult in meinem Glas und übertönt die verrückte Melodie, die aus dem mechanischen Klavier hinter mir kommt. Ich muss die Flasche zwischen den Knien halten, damit sie nicht vom Tisch fliegt.
Wir haben von einem Wind aus Asien geträumt, der unsere Städte befreien würde von den Dingen, die unsere Götter sind, dem Schnickschnack und dem Büttenpapier und den Vasen und den Gardinenstangen, dem ganzen Zeug, dessen Besitz Arm von Reich unterscheidet, dem ganzen Schund, den unsere Kultur für das Höchste hält, für den wir uns krummlegen und zu Tode rackern. So dass aus dem Menschen, einem aufrechtgehenden nackten Zweifüßler, eine Art Einsiedlerkrebs geworden ist, der nicht leben kann ohne ein schützendes Gehäuse aus Abendgarderobe und Limousinen und Kaffeemaschinen und Einkaufsgutscheinen und Schneebesen und Nähmaschinen, weshalb er, je stärker das Gehäuse und je schwächer sein Selbstwertgefühl, umso mehr als bedeutender Mann und Millionär gilt. Dieser Wind hat Russland saubergefegt, so dass die Dinge, die noch vor wenigen Jahren als göttlich verehrt wurden, heute als muffiger Trödel in irgendwelchen Ecken vor sich hin rotten; Tausende Leben wurden gegeben und genommen (von meinem Platz kann ich die wuchtigen Gebäude der Tscheka ausmachen, vollgestopft in diesem Moment mit armen Teufeln, die in der Maschinerie erwischt wurden), eine Generation, gleichgemacht wie Kies unter einer Dampfwalze, um die Tyrannei der Dinge zu brechen, der Waren, der Bedürfnisse, der industriellen Kultur. Gegenwärtig erleben wir die Ruhe nach dem Sturm. Götter und Teufel rächen sich mit Cholera und Hungersnot an den Siegern. Wird am Ende das gleiche Elend das Ergebnis sein oder ein Glauben und viele Wörter wie Islam oder Christentum, oder wird es etwas Unmögliches sein, etwas Neues, Unerhörtes, ein einfaches, kraftvolles, aber nicht barbarisches Leben, ein nacktes und gottloses Leben, in dem Güter und Institutionen für gesunde Menschen hergerichtet werden und nicht Menschen fein gemahlen und gesiebt werden im Dienst der Dinge?
Stärker, stärker weht der Wind aus Asien. Er hat den Tisch umgeworfen, mich vom Stuhl gerissen. Die Flasche in der einen Hand, das Glas in der anderen, stemme ich mich gegen den beängstigenden Wind.
8. International
Abends im angenehmen, heruntergekommenen Jardin des Petits Champs, wo niemand an Cholera oder Typhus oder Hungersnot an der Wolga denkt, gab es Kaviar und Tomaten und Grusinski- Schaschlik für den amerikanischen Orientreisenden, dazu den wunderbaren kakhetischen Wein. Beim anschließenden Spaziergang durch unbeleuchtete Straßen sah man keine alten Leute, nur junge Burschen in Hemd und dunkler Leinenhose, manche barfuß, und junge Mädchen in hübsch geschnittenen, schmucken weißen Kleidern, ohne Strümpfe, ohne Hut, die zu dritt oder viert oder in Grüppchen auf den breiten leeren Asphaltstraßen fröhlich daherschlenderten.
Die Nacht war warm, und ein trockener Wind wirbelte den Staub auf. Im Grusinski-Garten, einst Club der Aristokraten, drängten sich die neuen, leise lachenden jungen Leute. Eine Kapelle spielte die Leichte Kavallerie. Bunte Glühbirnen hingen zwischen den Bäumen. Es gab nichts Besonderes zu tun. Trotz Hungersnot und Cholera und Typhus schienen alle sorglos und unangestrengt fröhlich. An einem Tisch in der Ecke wurde, vermutlich illegal, Wein ausgeschenkt, den sich aber nur die Amerikaner leisten konnten. Allmählich strömte die Menge in ein Theater, über dessen Eingang Spruchbänder auf Russisch und Georgisch hingen. Der amerikanische Orientreisende wurde in einem schmalen Korridor als Amerikanski Poejt angesprochen, und bevor er wusste, wie ihm geschah, saß er in einem eigentümlich geschnittenen Raum. Und während er nach einer Person Ausschau hielt, die eine bekannte Sprache sprach, ging eine Wand hoch, und er stellte fest, dass er auf einer Bühne saß und einen vollbesetzten Zuschauerraum vor sich hatte. In der ersten Reihe sah er ein breites Grinsen auf den Gesichtern einiger Leute, mit denen er den Abend bis dahin verbracht hatte. Dann flüsterte ihm jemand auf Französisch ins Ohr, dass dies ein Festival der internationalen proletarischen Dichtung sei und er unbedingt etwas rezitieren müsse. Bei dieser Nachricht fiel der a. O. fast in Ohnmacht.