Es war ein grandioser Abend. Höchstens zehn Leute verstanden irgendetwas. Auf Armenisch, Georgisch, Türkisch, Persisch, Russisch, Deutsch und in allen nur denkbaren anderen Sprachen wurden Gedichte vorgetragen und gesungen. Das Publikum war begeistert. Dem a. O. gelang es, stockend ein Wiegenlied von William Blake als sein eigenes aufzusagen, das einzige, das ihm erinnerlich war, ein revolutionärer Ausbruch, der mit Bravorufen quittiert wurde. Der verwirrte und schweißgebadete a. O. hatte das Gefühl, seinen Beruf verfehlt zu haben. Jedenfalls dürfte Oh Sunflower weary of time nie unter seltsameren Bedingungen rezitiert worden sein. Und nachdem ein schmächtiger junger Soldat mit einem kegelförmigen geschorenen Kopf ein langes russisches Gedicht aufgesagt hatte, bei dem jeder in brüllendes Gelächter ausbrach, dass die Wände wackelten, löste sich die Versammlung unter größtem internationalen Frohsinn und Gesang auf, und alles strömte durch die stockdunklen Straßen nach Hause, junge Männer in weißen Hemden, barhäuptige junge Frauen in weißen Kleidern schlenderten unbekümmert durch diese leere Welt wie Kinder, die in einem verwaisten Haus spielen, und wurden allmählich verschluckt von den schwarzen kasernenartigen Gebäuden.
Unterwegs kamen wir an der Tscheka vorbei. Der Ort war hell beleuchtet, Stacheldraht vor den Fenstern, Wachposten gingen auf und ab. Wir versuchten, den Zuchthausgeruch nicht in die Nase steigen zu lassen, aber für unsere Ohren brach das Idyll zusammen.
Im N.E.R. herrschte beträchtliche Aufregung. Einer der Helfer war nur mit Mühe in sein Feldbett zu bringen. Andere sprachen über Typhus und Cholera. Ein Mann lief herum und zeigte allen eine Handvoll schwerer silberner Suppenlöffel. «Fünf Cents das Stück, wie findet ihr das?» – «Bist du sicher, dass sie nicht plattiert sind?» – «Echtes englisches Sterlingsilber, hier ist der Löwe. Etwas Besseres gibt es nicht.» – «Weil Major Vokes in Batum eine Halskette gekauft hat, die sich als Imitat erwiesen hat.»
Ich lag zusammengerollt auf meinem Feldbett im Nebenzimmer und hörte alles mit; der unruhige Geruch der Sommernacht kam mit einem Stückchen Mondlicht durch das geöffnete Fenster. Die Straße draußen war dunkel und leer, aber in der Ferne erklang leise ein Akkordeon. Die zittrige, zerrissene Melodie eines Akkordeons wehte durch die schwarze, halbverödete Steinstadt, schaute zu den Kasernenfenstern hinein, erschreckte die Alten, die verängstigt hinter geschlossenen Fensterläden inmitten ihrer letzten Dinge saßen, erregte die armen Teufel, die im Keller der Tscheka saßen, gefangen im Räderwerk des Molochs Revolution, so wie bei jeder Vorwärts- oder Rückwärtsbewegung der Dampfwalze namens Geschichte Leute unter die Räder kommen. Das Gefängnis ist der Grundstein der Freiheit, dachte der a. O., und dann fielen ihm die Augen zu.
V
HUNDERT ANSICHTEN
DES ARARAT
1. Tiflis
Der Zug bestand aus einem kleinen Personenwagen, vollgestopft mit Soldaten, und vielen Güterwagen. Als er einfuhr, saß ich auf meinem Koffer auf dem Bahnsteig und starrte versonnen auf die pompöse Anweisung für ein Schlafwagenabteil, die ich im Kommissariat für Auswärtige Angelegenheiten bekommen hatte. Das übliche zerlumpte Volk, dem man auf jedem Bahnhof im Kaukasus begegnet, lief hierhin und dorthin, Koffer und Säcke hinter sich herschleppend, ein schwitzendes, ärmliches Durcheinander von Bauern und Soldaten. Der Sajjid (also ein Nachfahre des Propheten Mohammed oder Alis, Sohn des Abu Talib) ging auf und ab und hielt allen, die es hören wollten, eine eindrucksvolle Rede auf Persisch und Türkisch über die besonderen Privilegien eines Diplomatenpasses. Endlich, nach wiederholten Vorstößen eines lustlosen Dolmetschers und Anfragen bei Amtspersonen an Schreibtischen, wurde beschlossen, dass der Güterwagen, in dem die Zeitungen befördert wurden, am ehesten einem Schlafwagen gleichkomme und dass die informative Gesellschaft von Iswestija- und Prawda-Bündeln sogar noch besser sei als ein Schlafwagenabteil, sofern der zuständige Kommissar einverstanden sei. Weitere Kommissare an Schreibtischen wurden konsultiert. Natürlich war der Kommissar sofort bereit ... Der Waggon wurde geöffnet und ein gewisser Samsun dort vorgefunden, ein Armenier, dem der Sajjid eine leidenschaftliche Predigt auf Türkisch über die Tugenden von Sauberkeit und Hygiene hielt, mit dem Ergebnis, dass Wasser herbeigeschafft und Lysol auf das Dach gesprüht wurde und frische Exemplare der berühmten Moskauer Zeitungen als Sitzunterlage für uns auf dem Boden ausgebreitet wurden. Im nächsten Moment zückte der Sajjid sein Messer und begann, eine Melone zu schlachten, während Samsun Effendi, besser gesagt Towarischtsch Samsun, gierig schmatzte und unverfroren um Kognak bat. Wir vertrösteten ihn mit der Aussicht auf Wein und mit einem Melonenschnitz. In diesem Moment kletterten die beiden dreckstarrenden Burschen, die Samsuns Diener waren, an Bord, und mit nur fünf Stunden Verspätung rumpelte der Zug aus dem Bahnhof.
Eine merkwürdige Existenz führen die Leute an den Bahnstrecken im Kaukasus und vermutlich in ganz Russland. Die heruntergekommenen Verkehrsadern üben eine eigentümliche Anziehungskraft aus. In jedem Bahnhof sind Menschenmengen, und selbst an einsamen Bahnübergängen, weit entfernt von irgendeinem Dorf, stehen Gruppen von Männern und Frauen und beobachten den vorbeifahrenden Zug. Vielleicht betrachten sie sich gewissermaßen als Eigentümer der endlosen schimmernden Schienen und der ölverschmierten Lokomotiven, fühlen, dass ihr entbehrungsreiches, armes Leben auf diese Weise mit fernen, bedeutsamen Ereignissen verbunden ist. So viele Leute scheinen ihr ganzes Leben am Bahndamm zuzubringen. Die Soldaten der Roten Armee sind oft in Personenwagen und umgebauten Güterwagen einquartiert, die auf Nebengleisen stehen, lange Züge mit Stabswagen und Salonwagen und Lazarettwagen und Wagen voll Schwarzbrot und Salzheringen, was der Grundproviant ist. Daneben gibt es die gepanzerten Züge, die an allen Schauplätzen im Bürgerkrieg eingesetzt wurden. Außerdem sieht man, besonders in der Nähe von Städten, Hunderte von Güterwaggons mit Fenstern und Ofenrohren, die allen möglichen Leuten als Unterkunft dienen – Flüchtlingen von Gott weiß woher, Gleisarbeitern, kleinen Beamten, Zigeunern, Vagabunden jedweder Art. Und während der Zug vorüberfährt, schauen alle aus den Schiebetüren und Luken der Begleitwagen und gaffen die Soldaten und Bauern und Zivilbediensteten an, die auf dem Dach oder in den geöffneten Türen der ratternden Güterwagen sitzen und mit den Beinen baumeln.
2. Karakliss
Mondlicht fällt durch die hohen Pappeln am Bahndamm und verbindet sich auf dem Boden des Güterwagens mit dem Schein der Kerzen in meiner Ecke. Der Sajjid hat aus seinem Koffer und der Vorratskiste so etwas wie ein Bett konstruiert und befindet sich in einem unruhigen Schlaf. Wahrscheinlich träumt er vom Panislam und vom Kampf gegen Hunderte kleiner britischer Teufel mit gespaltenen Hufen und hohen Helmen. Am anderen Ende des Wagens haben der Georgier und Samsun und seine Jungs sich inmitten der Zeitungsbündel ihre Betten eingerichtet. Der Bahnsteig draußen liegt menschenleer im Mondlicht. Das Geräusch eines Flusses ist zu hören. Überall am Lattenzaun schemenhafte Figuren von Schlafenden. Mit dem frischen Geruch des Flusses und der Berge, die im hellen Mondlicht hinter den Pappeln schroff aufragen, weht manchmal der elende Gestank von kaltem Schweiß und Lumpen und verdreckten, unterernährten Leuten heran, die in den Schuppen am Bahnhof beieinanderliegen.