Seit Sonnenuntergang sind wir in Armenien, nachdem wir die neutrale Zone passiert haben, in der Georgier und Armenier die Dörfer des jeweils anderen niedergebrannt haben, bis die Briten 1918 einschritten. Auf dem letzten georgischen Bahnhof, bevor wir das lange Tal in den Kleinen Kaukasus hinauffuhren, versorgte sich jedermann mit Wassermelonen, die dort noch zweitausend Rubel das Stück kosteten. Hier oben in den Bergen und in den Hungergebieten kosten sie zehntausend oder mehr.
Kurz vor Einbruch der Dunkelheit passierte etwas sehr Aufregendes. Schüsse fielen, Trillerpfeifen waren zu hören. Samsun Effendi zog einen riesengroßen Revolver, den er heldenhaft herumwirbelte, und schickte den jüngsten Burschen los herauszufinden, was los war. Zuerst hieß es, dass eine Frau vom Dach eines Güterwagens gefallen und dabei zu Tode gekommen sei, aber schließlich stellte sich heraus, dass bloß ein Sack Mehl aus dem Güterwagen der amerikanischen Helfer gefallen war. Das Mehl wurde wieder aufgelesen, und jeder kehrte an seinen Platz zurück, in den Waggons oder auf dem Dach oder auf den Pufferstangen, und dann keuchte der Zug wieder bergan. Samsun Effendi wurde durch den Zwischenfall in beste Laune versetzt. Er erzählte von früheren Heldentaten und zeigte dabei geistesabwesend mit dem Revolver auf jeden von uns. Damit der Revolver wieder in seinem Halfter verschwand, mussten der Sajjid und ich eine Flasche unseres besten Kakhetia öffnen, was eine geradezu magische Wirkung hatte. Der kleinste Junge, ein neugieriges Kerlchen mit einem Gesicht so verhärmt wie das eines Esels, sang mit überraschend tiefer Stimme Wolga-Lieder. Der Georgier schnallte den Gürtel enger und begann zu tanzen und sich dabei mit den Händen auf die Schenkel zu klatschen. Ein breites Grinsen ging über das zerfurchte Gesicht von Samsun Effendi, das halb an ein Kamel und halb an eine Karikatur des «Terrible Turk»[13] erinnerte.
3. Alexandropol
Staubbedeckte Soldaten und Güterbahnhöfe voller Waggons, deren Farbe unter der heißen Sonne abgeblättert ist. Die kleine Armenierin hat ihren Korb geschnappt und ist verschwunden. Nachts war sie irgendwo im Schlepptau eines weißschnurrbärtigen Bahnhofsvorstehers erschienen. Hatte für einiges Aufsehen gesorgt. Der Sajjid richtete sich auf, und als er den Leberfleck auf ihrem Kinn bemerkte, den Orientalen so lieben, machte er ein herrlich affektiertes Gesicht und rief mit lauter Stimme: «Quel théâtre!» Samsun Effendi zündete eine Kerze an, strich sich das Haar glatt und betrachtete sich zufrieden in einem kleinen Taschenspiegel. Doch die Armenierin ließ sich von all diesem Getue nicht beeindrucken und schlief, den Kopf auf ihrem Korb, seelenruhig ein.
Bei Tagesanbruch überquerten wir die Wasserscheide des Kleinen Kaukasus. Die Dörfer auf der Nordseite, verstreute Ansammlungen von geduckten Häusern aus Vulkanstein, mit Gras gedeckt und oft noch mit hohen Heuschobern darauf, waren unbeschädigt. Wohlgenährte Bauern waren schon auf den Feldern bei der Arbeit. Aber kaum begann der Zug, sich den Südhang hinunterzuwinden, war alles die reinste Wüstenei. Der letzte türkische Angriff war 1920 über das Land hinweggefegt. In den Dörfern war kein Haus unversehrt, die Ernte, ja selbst die Bahnhöfe waren systematisch zerstört und alles, was nicht niet- und nagelfest war, weggeschafft worden. Dschingis Khan und seine Horden hätten nicht gründlicher vorgehen können. Alexandropol, obschon restlos heruntergekommen, war vom Krieg offenbar verschont worden. Die Stadt erstreckt sich über Bahnhofsanlagen in einer gelben versengten Ebene, in der der Wind den Sand von hier nach dort wirbelt. Die auffälligsten Gebäude sind die Reihen grauer Baracken, in denen der Near East Relief Waisenkinder untergebracht hat. Auf dem Bahnsteig die übliche Menschenmenge, zerlumpte Bauern und Soldaten, Russen und Armenier.
Als ich den Ararat zum ersten Mal sah, zeichnete er sich so hauchzart vor einem grauen Himmel ab wie der Fudschi in einigen von Hokusais Hundert Ansichten, ein hoch aufragender, weißgemaserter Kegel in perlfarbenem Dunst. Der Zug wand sich um eine Bergschulter, durch rötliches Ödland, das in den Ebenen alkalifarben glitzerte. Eine Weile zuvor hatte der Georgier über ausgedörrte Hügel gezeigt und «Ani» gesagt. Irgendwo in der steinigen Ödnis zu unserer Linken lag die Hauptstadt des alten Königreichs Armenien. Beim Anblick des Ararat war ich so aufgeregt, als sei die Arche auf dem Gipfel noch immer zu sehen, und ich versuchte, den Sajjid für diese Geschichte zu begeistern. Doch er ließ sich nicht ablenken von seiner aufwendigen Konstruktion aus Stöckchen und Bindfaden, die verhindern sollte, dass der kleine Teekessel von unserer noch kleineren Petroleumlampe fiel. Als er sich schließlich erhob, betrachtete er den Berg lange Zeit und aufmerksam, nippte aus einer Blechtasse Tee und sagte dann kopfschüttelnd: «Der Damavand ist höher und spitzer.» – «Aber die Arche mit Noah und dem Elefanten und dem Känguru und dem ganzen Rest des Zoos ist doch nicht auf dem Damavand gelandet!» – «Auf dem Damavand soll es Geister geben», sagte der Sajjid. Und da die Diskussion für ihn zu einem befriedigenden Abschluss gebracht war, setzte er sich wieder in seine Ecke und brühte eine neue Kanne Tee.
Wir kamen aus den Bergen hinunter in ein unregelmäßiges bassinartiges Tal, an dessen Ende der weißgemaserte Gipfel des Ararat sich in zwei großen starkgezeichneten Linien über der bläulichen Bergmasse erhob. Im Vordergrund waren für einen kurzen Moment die dachlosen Steinmauern eines Dorfs. Hinter einer Hütte stieg Rauch von einem offenen Feuer auf, aber sonst war in der ganzen Landschaft von zerklüfteten Bergen und aschgrau-weißen Alkaliebenen nirgendwo etwas Lebendiges zu sehen. Dann kam ein Gewitter, das sich seit längerem indigofarben über den Bergen im Westen aufgetürmt hatte, und hüllte alles in undurchdringliche Massen von Regen und Hagel.
Auf einem Bahnhof in der Ebene baten wir Samsun Effendi, Wasser für Tee zu besorgen, doch zur allergrößten Freude des Sajjid kehrte er mit einer Mademoiselle zurück, wie der immer sagt.
Wir saßen auf der mysteriösen Kiste und schauten über die Ebene hinweg auf den Ararat, der nun, viel näher, aufrecht und leuchtend über der Dämmerung stand, die sich bereits über die Ebene legte. Wir hatten der Mademoiselle eine Tasse Tee und Schwarzbrot und Kaviar aus unseren Vorräten angeboten, und sie schien irgendwie zufrieden und entspannt, wie eine Katze, die man hinter den Ohren krault. Offensichtlich war sie die ganze Zeit in Abwehrhaltung gewesen. Sie war in einem Waggon voller Soldaten aus Tiflis gekommen. Sie hatte ein sympathisches teutonisches Gesicht mit runden Wangen und stahlblauen Augen wie eine Vermeersche Frauengestalt und trug ein fleckiges weißes Kostüm, das einen Hauch von Stil hatte. Sie trug Strümpfe, eine Besonderheit in diesem Teil der Welt, und kleine Schnürsandalen. Allmählich taute sie auf, hatte aber Mühe, sich ihres Französisch zu erinnern. «Ja, ich reise nach Eriwan. Ich arbeite dort als Stenotypistin in einem Büro. Natürlich in einem staatlichen Büro, es gibt ja keine anderen ... Nein, es ist dort nicht so schlecht. Die Leute hungern ... Sicher, es ist schlimmer als in Tiflis, aber wissen Sie, wir haben uns inzwischen daran gewöhnt. Wir bemerken diese Dinge nicht mehr. Wir haben ein hübsches Haus und Rosen im Garten, ich habe Hunde ... Ich reite sogar. Trotzdem, es ist ein elendes Leben, und alles nur, weil meine Eltern beim Vormarsch der Deutschen auf Riga Angst bekamen. Wir sind nämlich Esten, keine Russen. Wir haben in Riga gelebt, und als damit zu rechnen war, dass die Deutschen Riga bombardieren würden, flohen wir nach Russland. Auch viele andere sind geflohen. Und dann fingen unsere Probleme an.» Sie lachte. «Was für eine Zeit!»
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