Der Zug hielt auf einem Bahnhof. Die Ebene war nun sumpfig. Vor uns, hinter einem Schilfdickicht, war der Ararat, unten indigo, darüber waagerechte Dunststreifen, der Gipfel leuchtend rosa. Dahinter, wie ein Schatten, der Kleine Ararat, ganz dunkel. Mückenschwärme sirrten uns um die Ohren.
«Aber ich wollte Ihnen erzählen», fuhr die Mademoiselle fort, «oh, diese Mücken! Spätestens nach einer Woche in Eriwan bekommt man Malaria. Es ist wirklich ein grauenhafter Ort ... Alle sterben dort ... Na jedenfalls, ich war damals noch ein Kind, ich bin ja noch nicht so schrecklich alt. Ich habe meine Eltern angefleht, nicht zu gehen. Wir hatten ein so schönes altes Haus mit Linden ringsherum und einen Garten voller Sträucher, dort habe ich gespielt. Sie waren noch nie in Riga? Die Ostsee ist im Sommer so schön, die vielen Inseln ... Meine Großmutter wollte nicht gehen. Ich glaube, sie ist noch immer am Leben, wohnt in unserem alten Haus. Ich werde zurückkehren, auch wenn ich dabei sterben sollte. Ich habe schon einen Pass beantragt und mit dem estnischen Konsul in Tiflis gesprochen. Deswegen bin ich dorthin gefahren. Aber es ist so schwer, dort etwas zu erreichen. Am liebsten würden sie alles verbieten.» Sie lachte wieder. «Ah, ich könnte mich furchtbar aufregen. Sie ziehen einfach ihre Politik durch, und wenn jemand etwas unternehmen will, heißt es: ‹Verboten, verboten.›»
Der Sajjid in seiner Ecke hatte wieder Wasser für Tee aufgesetzt. Ein Ruck, der durch den Zug ging, warf alles durcheinander, Kanne und Lampe und alles, so dass ich von der mysteriösen Kiste sprang und half, das Gerüst wieder aufzubauen, von dem es abhing, wie oft wir eine Tasse Tee trinken konnten. Wenig später sah ich, dass Samsun Effendi, der abermals mit seinem Taschenspiegel zugange gewesen war, sich auf meinen Platz gesetzt hatte und in ein Gespräch mit Mademoiselle vertieft war. Sie warf mir über seine Schulter einen Blick zu und sagte, die Nase gerümpft wie Karnickeclass="underline" «Il me fait la cour. Pensez!»
Der Sajjid blickte zwischen den beiden hin und her und erklärte plötzlich mit Stentorstimme: «Quel théâtre!» Dann lachte er, griff nach der letzten Wassermelone, zerlegte sie geschickt mit seinem Taschenmesser und reichte mir eine Hälfte als Friedensgabe.
Durch das obere Fensterchen des Güterwagens sah ich zum letzten Mal an diesem Tag den Ararat. Ich saß auf meinem Koffer, die Zähne in die süße, tropfende Melone gegraben, drei Streifen Wassermelonenrot vor dem intensiven Indigo des Himmels.
4. Eriwan
Lange, schnurgerade, grasüberwucherte Straßen, erfüllt von einem widerlichen Gestank von Mist und Kloake. Halbnackte Kinder mit eingefallenen Wangen und aufgedunsenen Hungerbäuchen kauern wie verwundete Tiere in Eingängen und Mauernischen. Über grauen Mauern hier und da ein tragender Apfelbaum. Darüber der makellose Türkishimmel, in dem man von jeder kleinen Erhebung aus das ferne weiße Schimmern des Ararat sehen kann. Man sagt, obwohl ich es selbst nicht gesehen habe, dass jeden Tag ein Leichenkarren herumfährt, der die Toten von der Straße aufliest. Aus den Dörfern werden entsetzliche Geschichten berichtet, dass die Leute dort, weil sie nichts zu essen haben, frische Gräber plündern und die Toten verzehren. Doch auf dem Boulevard, dem schäbigen Mittelpunkt von Eriwan, schlendern die Leute umher, vergleichsweise gut genährt und gekleidet. In den Läden gibt es viel Obst, auf den Basaren gibt es Fleisch und Käse und unansehnliches grobes Schwarzbrot. Die Russen haben ein Kino eingerichtet und ein armenisches Theater gegenüber der orthodoxen Kirche, das mit grellen Plakaten auf sich aufmerksam macht.
Dort begegnete der Sajjid einem persischen Ladenbesitzer. Dieser Mann, ein Muslim, berichtete, dass die meisten mohammedanischen Einwohner von Eriwan von Armeniern massakriert und vertrieben worden seien. Wir kauften eine Wassermelone, die wir an Ort und Stelle aßen, während der Sajjid und der Perser auf Turki zwanglos miteinander plauderten. Ich schnappte das Wort Amerikai auf und mehrmals das Wort Ararat und fragte den Sajjid, worum es ging. «Der Mann hier sagt, dass ein Amerikaner, ein amerikanischer Journalist, im letzten Jahr auf den Ararat gestiegen und dort gestorben ist. Er wurde von einem Armenier vergiftet. Dieser Mann hier war sein Diener.»
Ich wollte noch nähere Einzelheiten erfahren, doch in dem Moment betraten mehrere Leute das Geschäft. «Er wird jetzt nichts mehr erzählen», sagte der Sajjid geheimnisvoll. Den Rest der Geschichte haben wir nicht erfahren.
Gegenüber vom Bahnhof ist eine verfallene braune Mauer, in ihrem Schatten liegen Männer, Kinder, eine Frau, Lumpenbündel, die sich wie im Fieber krümmen. Wir fragen jemanden, was mit ihnen los ist. «Nichts, sie sterben.» Ein halbnackter Junge, die schmutzige Haut graugrün, kommt mit einem Stück Brot in der Hand aus dem Bahnhof, wankt wie benommen in Richtung Mauer. Dort sinkt er nieder, zu schwach, um die Hand zum Mund zu führen. Ein alter Mann mit einem Stock in der Hand humpelt langsam herbei. Er hat blutunterlaufene Augen, die aus einer unbeschreiblichen Matte von Haar und Bart herausschauen. Er steht eine Weile über dem Jungen und greift dann, auf seinen Stock gestützt, nach dem Brot und verschwindet um die Ecke hinter den Bahnhof. Der Junge wimmert leise vor sich hin, liegt nur reglos da, den Kopf auf einen Stein gestützt. Über der Mauer, vor dem violetten Nachmittagshimmel, steht der Ararat weiß und kühl und glatt wie die Vision einer anderen Welt.
5. Basch-Nuraschin
Gestern Abend verließen wir Eriwan in einem privaten und eigens gereinigten Güterwagen, der nach langen Verhandlungen mit dem Bahnhofsvorsteher und anderen Beamten und reichlich Bakschisch aufgetrieben worden war. Der Sajjid setzte sich als diplomatischer Kurier grandios und sehr wirkungsvoll in Szene. Nachdem wir schließlich eingestiegen waren und darauf warteten, dass der Zug sich vielleicht zur Abfahrt entschließen würde, erklärte mir der Sajjid, dass man in Russland und im Orient ganz allgemein durch mürrisches und grobes Auftreten am besten führe. Versprach ihm, die Perlen seiner Weisheit zu beherzigen. Außerdem versicherte er sich der Dienste eines Laternenschwenkers namens Ismail, eines Muslim, der eifrig Wasser und Melonen beschaffte und sogar ein paar schrumpelige Gurken auftrieb. Wir ließen dem Lokomotivführer zwei Dosen Sardinen bringen und dem Schaffner ein Päckchen Tee. Und nachdem wir unsere Position im Zug derart gesichert glaubten, schlossen wir unsere Türen, öffneten die kleinen Fenster und bereiteten unsere übliche Mahlzeit aus Tee, Käse, Brot und Kaviar, und ein paar Stunden später fuhr der Zug tatsächlich ab.
Am Morgen gab es einen Halt in einem fruchtbaren, aber schilfbestandenen Tal zwischen zwei kahlen rosafarbenen Bergzügen. Hinter uns erhoben sich die beiden Ararats im goldenen Licht der Morgendämmerung. Neben dem Bahndamm war ein schmales Melonenfeld, das ein hagerer brauner Mann in zerschlissener persischer Tracht verzweifelt vor dem Ansturm der Reisenden zu schützen versuchte. Wir wuschen uns in einem Bewässerungskanal und frühstückten zuversichtlich, aber es war Mittag und brüllend heiß, bevor der Zug weiterfuhr. Der Sajjid verbrachte die Zeit damit, grandiose panislamische Ansprachen vor kleinen Gruppen zu halten, die der getreue Ismael zusammengetrommelt hatte und die sich vor der Waggontür scharten und von den Greueltaten der Armenier und vom Leid der Muslime berichteten. Unterdessen sprach ich, in der anderen Tür sitzend, in mühseligem Französisch und noch mühseligerem Englisch, mit einem Armenier, der mir von den furchtbaren Dingen erzählte, die die Türken und Tataren verübt hatten. Schließlich setzte sich der Zug wieder in Bewegung, fuhr aber nur ein paar Kilometer weiter bis zu einer verlassenen Ortschaft an der armenisch-aserbeidschanischen Grenze. Und hier sind wir nun, in einem stinkenden überfüllten Güterbahnhof neben einem zerstörten Bahnhof. Wie üblich gibt es in der Stadt kein einziges unversehrtes Haus. Die Muslime sagen, sie sei von den Armeniern zerstört worden, und die Armenier sagen, dass es die Türken waren. Ab und zu kommt Ismail, um uns zu versichern, dass der Zug in zwei Stunden in Richtung Nachitschewan und Dschulfa weiterfahren wird, der persischen Grenzstadt, die unser Ziel ist.