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Der Sajjid besucht eine kranke Frau im Nachbarwaggon. Er kommt zurück und sagt, sie hat Typhus in fortgeschrittenem Stadium, nichts mehr zu machen, in ein paar Stunden wird sie sterben. Wir sehen, wie sich die Leute in dem anderen Waggon einer nach dem anderen davonstehlen. Dann wird sie herausgebracht und neben das Gleis auf einen kleinen rotgelben Teppich gelegt. Sie ist eine Russin. Ihr Mann, ein schlanker Mohammedaner mit üppigem Bart, sitzt neben ihr und streicht ihr manchmal mit einer verstohlenen animalischen Geste über die Wange. Ihr Gesicht ist totenblass, grünlich, mit einem scheußlichen Zug um den Mund. Sie liegt reglos da, die nackten Beine schauen unter dem zu kurzen Kleid hervor. Nicht einmal das Rot der untergehenden Sonne verleiht ihrer Haut ein wenig Farbe. Und die Sonne versinkt in scharlachrotem Ungestüm hinter dem Ararat. Aus dem dreieckigen Raum zwischen den beiden Bergen schießt ein gelber Lichtstrahl in den Zenit. Ein Mann steht neben der Sterbenden, hält verlegen ein Glas Wasser in der Hand. Vom anderen Ende des Bahnhofs ertönt das Klagen eines georgischen Lieds, gespielt von Dudelsack und Trommel, zu dem Soldaten tanzen. Das Gesicht der Frau scheint immer weiter zu schrumpfen. Von der Sonne ist nur noch ein dreieckiges Leuchten hinter dem Ararat geblieben, das die beiden Gipfel von innen silbern säumt. Im Wind liegt ein säuerlicher Geruch von Dreck und Soldaten und Unrat. Der Sajjid sitzt deprimiert auf der mysteriösen Kiste in der Mitte des Güterwagens, schüttelt den Kopf und ruft mit kraftloser Stimme: «Avec quelle difficulté.»

Und dann steht er wortlos auf und schließt die Tür auf der Seite, wo die Tote auf dem rotgelben Teppich neben dem Gleis liegt.

Als ich spätabends mit einem Glas Wein im Mondschein herumstreifte – der getreue Ismail hatte Gott weiß woher eine Flasche für uns aufgetrieben – und den Mückenschwärmen auszuweichen versuchte, hörte ich die laute Stimme des Sajjids in erregter Diskussion, in der immer wieder das Wort Courrier diplomatique fiel. Da ich kein Freund von Diskussionen bin, ging ich den Bahndamm weiter entlang. Bei meiner Rückkehr war alles ruhig. Wie sich herausstellte, hatten bestimmte Leute versucht, in unseren privaten Waggon einzudringen, waren aber noch während der Diskussion verhaftet worden, weil sie ohne die vorgeschriebenen Pässe reisten, was für den Sajjid ein unmittelbarer Beweis göttlicher Vorsehung war.

6. Nachitschewan

Wieder ein Güterbahnhof, diesmal leer, bis auf einen langen Lazarettzug. Fliegen schwirren in der drückenden Hitze. Die Stadt selbst liegt mehrere Kilometer entfernt am Ende einer glühenden Sandpiste. Die Lokomotive ist verschwunden, und die wenigen verbliebenen Güterwagen des Zuges sind leer. Die Leute liegen ermattet im Schatten unter den Waggons. Ein gelegentlicher Windhauch bewegt die oberen Äste einer dürren Akazie auf dem Bahnsteig neben dem Schuppen, wo früher Tee serviert wurde, aber diese Brise erreicht nicht den Güterbahnhof. Der Sajjid, dem der Schweiß aus allen Poren rinnt, zerschneidet eine Wassermelone, die wir hastig unter einem Taschentuch verschlingen müssen, damit die Fliegen uns nicht zuvorkommen. Derweil hält der Sajjid einen Vortrag über die Tugend der Geduld, die unerlässlich ist, wenn man als Courrier diplomatique tätig sein will. Nachdem wir die Melone aufgegessen und herausgefunden haben, dass wir definitiv noch acht Stunden in Nachitschewan bleiben werden, steige ich in den Waggon, lege mir zum Schutz vor den Fliegen ein Tuch über den Kopf, in der vagen Hoffnung, dass die Hitze mich schläfrig machen wird. Begieß den Braten. Dieser Ausdruck geht mir auf einmal durch den Sinn und das Bild eines kleinen Jungen, der fasziniert zusieht, wie das Hähnchen mit Bratensauce übergossen und dann in einer emaillierten Kasserolle in den Ofen geschoben wird. Ich überlege, ob ich genauso knusprig braun werde wie das Hähnchen. Fliegen schwirren unaufhörlich vor dem Tuch. Ihr Brummen verwandelt sich in den Schlager, der in Paris in der Zeit, als der sogenannte Friedensvertrag unterzeichnet wurde, sehr populär war:

I’ fallait pas, i’ fallait pas, i’ fallait pa-as y aller.

Draußen ertönt die Stimme des Sajjid, der in grandioser Manier über den Panislamismus und die Wiedererweckung Persiens doziert. Er muss einen Muselmann gefunden haben. Mein Kopf ist wie ein Suppentopf, der köchelnd auf dem Herd steht. Meine Gedanken schwimmen in einer dicken Sauce von Ermattung. Armenien. Ein schneller Blick auf die Generalstabskarte mit russischen, türkischen, britischen Fähnchen. Was für ein tolles Spiel. Die Fähnchen bewegen sich hierhin und dorthin. Lebendiger als Schach. Dann die Karten der Geheimdienste. Ganz, ganz schlau. Wir werden die Religion von A ausnutzen, damit er gegen B kämpft, wir werden die Kommandeure von D kaufen, damit sie A von hinten angreifen, und wenn alle am Boden liegen, werden wir die Landkarte fein säuberlich aufteilen. Die Fliegen summen: Zerleg den Truthahn, zerleg ihn bis ins Mark. Die Stücke nennen wir Armenier, Georgier, Assyrer, Türken, Kurden. Wenn aber alle am Boden liegen, können sie das Tranchiermesser nicht finden. Also bleiben alle am Boden liegen, und wenn sie des gegenseitigen Massakrierens müde sind, stellen sie fest, dass sie Hunger leiden. Und der Tod und die Wüste rücken näher, rücken näher. Wo im letzten Jahr ein Weizenfeld war, sind jetzt Disteln, und im nächsten Jahr werden nicht einmal Disteln dort wachsen. Und die Bauern sind Bettler oder Banditen. Und damit hat sich das Landkartenspiel im Orient fürs Erste. Aber das Tuch hat sich verheddert, so dass die Fliegen reinkommen. Ich werde runtersteigen und schauen, was der Sajjid seinen Zuhörern erzählt.

Der Sajjid erklärt, dass der Orient seine Probleme selbst lösen müsse, dass die Mohammedaner überall auf der Welt aus ihrer Schicksalsergebenheit erwachen, die ausländischen Ausbeuter verjagen und das Schicksal ihrer Nationen in die eigenen Hände nehmen müssen. Er sagt viele schöne Dinge, aber nicht, wie die zerlumpten Kinder, kleine Skelette mit großen Augen und aufgedunsenen Bäuchen, ernährt oder das Saatgut für den Herbst gekauft werden soll.

Dutzende von diesen kleinen Kindern in allen Stadien der Verelendung suchen unter den Waggons nach Essensresten. Sie sind nicht wie Tiere, denn Tiere wären schon längst verendet. Der Sajjid hat mit einigen von ihnen auf Turki gesprochen. Manche sind von muslimischen Eltern aus Eriwan, andere sind Christen vom Van-See. Manche wissen nicht, ob ihre Eltern Christen oder Muslime waren, und erinnern sich vor lauter Hunger an überhaupt nichts mehr, nur dieser Güterbahnhof und die Essensreste, die ihnen die Soldaten hinwerfen. «Es ist der achte Monat», sagt der Sajjid. In drei Monaten, im Winter, werden sie alle sterben.

7. Dschulfa (21. August 1921)

An diesem Abend spielte die Politik[14]verrückt, wie der Sajjid sagte. Es zeigte sich, dass die Lokomotive immer nur zwei Waggons von Nachitschewan nach Dschulfa bringen konnte. Konfliktparteien waren der Sajjid und eine Gruppe vage offiziell aussehender Armenier. Der Bahnhofsvorsteher ließ sich in unseren Wagen locken, wurde mit Tee und Zigaretten traktiert, und nachdem die Türen vor neugierigen Blicken verschlossen worden waren, steckten wir ihm ein paar türkische Pfund in Scheinen zu. Trotzdem war die Sache erst entschieden, als wir den brillanten Einfall hatten, den wichtigsten Mann der anderen Seite, einen Doktor, abspenstig zu machen und ihm einen Platz in unserem Wagen anzubieten. Der Gefoppte durchbohrte uns mit Blicken, während wir hinter einer zischenden kleinen Lokomotive aus dem Bahnhof rumpelten. Es war beinahe Vollmond. Das Gleis schlängelte sich in kühler und trockener Bergluft neben einem Fluss durch eine wilde Schlucht. Ich saß die meiste Zeit auf der mysteriösen Kiste neben der offenen Tür und atmete die Reinheit der nackten Felsen. Kein einziger Grashalm, kein Leben, kein Leiden, nur Felswände und schroffe Berge und das steinige Flussbett, und hinter jeder Biegung verbarg sich unvorstellbar Neues, Persien.

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Politik Im Original auf Deutsch