In dieser Nacht wurde der Beginn des Muharram gefeiert, des Monats der Trauer um Hossein, den großen schiitischen Märtyrer. Die Moskitos und Sandfliegen waren so aufdringlich, dass an Schlaf nicht zu denken war. Der Sajjid lag bedrückt in einer desinfizierten Ecke, dachte sorgenvoll an lauernde Wanzen und stöhnte von Zeit zu Zeit «Quel théâtre!» auf die erbärmlichste Weise. Ich bedeckte Kopf und Gesicht mit einem Tuch, ging auf einem Balkon auf und ab, rauchte und sah dem guten alten Orion zu, wie er langsam am Himmel emporstieg. Aus der Stadt drang Trommelwirbel heran und in atemlosem, stetigem Rhythmus der Ruf «Hossein, Hassan, Hossein, Hassan». Dazwischen ohrenbetäubendes Hundegebell. Die Luft im Innenhof roch unangenehm faulig, und ich hörte die Schellen unserer Pferde, die sich der Mücken erwehrten, und das Stampfen einer Menschenmenge, die sich im Gleichschritt bewegte und mit der ganzen kraftvollen Inbrunst des Islam «Hossein, Hassan, Hossein, Hassan» rief.
5. Das höckerlose Kamel von Dschemalabad
Am Morgen ein ziemlich breiter Pass, über den eine gepflasterte Straße führte, vermutlich angelegt von dem nimmermüden Schah Abbas. Die klare thymianerfüllte Luft vertrieb die Miasmen von Mianeh. Doch der Sajjid war untröstlich. Mit Tränen in den Augen versicherte er mir, dass er gestochen worden sei und nun wahrscheinlich sterben werde. «Et après tellement de précautions», sagte er bekümmert, während wir die letzte Biegung vor der Passhöhe nahmen. Weder die Landschaft noch der frische Nachschub an Melonen und köstlich duftenden weißen, kernlosen Trauben konnte ihn umstimmen. Er hatte sich als krank bezeichnet und schuldete es seiner Reputation, die Richtigkeit seiner Diagnose unter Beweis zu stellen, also musste er krank sein; es war Malaria.
Mittagessen unter einem Apfelbaum in dem verfallenen Dorf Dschemalabad, recht düsterer Stimmung diskutierten wir über Religion, während ein uraltes Kamel, verwahrlost und höckerlos, von einem benachbarten Feld mit einem «Die werden ein böses Ende nehmen»-Ausdruck herüberstarrte. Der Sajjid sagte, dass alle Propheten eine kleine Wahrheit zu sagen hätten und dass ihre Anhänger zusammenhalten sollten statt zu streiten, denn le Dieu sei le Dieu, wie immer man ihn nenne. Nein, er sei kein Bahai, aber er denke in vielen Dingen wie sie, das seien gute Leute, ehrlich und tolerant und interessiert an Fortschritt und Bildung. Wenn es doch nur mehr von ihnen in Persien gäbe! Aber die Armen seien unwissend und fanatisch und glaubten, was ihnen die Mollahs erzählten. «Stellen Sie sich vor», sagte er und saß plötzlich kerzengerade, «ich hätte auch ein Mollah werden können und nicht Arzt, also ein Mann der Wissenschaft ... Mein Vater war Mudschtahid[17], ein sehr heiliger Mann, und wenn die amerikanischen Missionare nicht mit ihm geredet und ihn gedrängt hätten, mich zum Studium ins Ausland zu schicken, würde ich jetzt gewiss einen Bart und einen blauen Turban tragen und wäre ein Mudschtahid geworden. Wundert es Sie, dass mir alles Amerikanische gefällt?»
Dann wandte sich der Sajjid an einen sehr zerlumpten Mann, der ein wenig entfernt von uns saß und unsere Melonenschalen aß. Wie sich herausstellte, war sein Vater der Besitzer dieses Felds und vieler anderer gewesen. Doch dann waren die Türken gekommen und hatten die Ernte vernichtet und das Haus angezündet und seinen Vater ermordet, und nun war er ein Bettler. Er erzählte seine Geschichte so gelassen, als wäre sie Teil der göttlichen Ordnung. Islam ist wahrhaftig Ergebenheit.
6. Die türkisblauen Kuppeln von Zendjan
In Tarzikand gab es nur einen Ort zum Schlafen, ein paar wackelige Bretter über einer Zisterne voll quakender Frösche. Die Zisterne befand sich in einem ummauerten Gärtchen mit Mandelbäumen. Ein heftiger Wind wehte die Kohlestückchen vom Samowar, und ständig flog das hauchdünne Brot davon, das es zum Abendessen gab. Ich lag vorsichtig auf den Brettern, die Sterne über mir hingen wie weihnachtliche Silberkugeln an den Zweigen der Mandelbäume.
Der Sajjid war schweigsam in diesen Tagen, nahm Chinin und maß seine Temperatur. Wir übernachteten ein weiteres Mal in Yekendje, einer Schlucht voller mächtiger Pappeln, die das steinige Flussbett säumten wie die silbrigen Bäume auf Piero della Francescas Taufe Christi. Auf dem Dach des Chans richteten wir uns ein, es gab dort auch ein Zimmerchen, in das sich der Sajjid mit seiner Malaria zurückzog. Bedient wurden wir auf das Liebenswürdigste von einem kleinen Jungen namens Gholamhossein, der von seinem Zuhause in Zendjan weggelaufen war, weil er, wie er sagte, seinen Vater nicht mehr leiden konnte. Als wir ihn am Morgen fragten, ob wir etwas für ihn tun könnten, sagte er, dass der Sajjid, der doch ein Hakim sei, ein Arzt, vielleicht ein Mittel für ihn habe, mit dem er sein Gesicht heller machen könne, das wirklich sehr dunkel war.
In Zendjan besserte sich die Stimmung des Sajjid dank eines sehr aromatischen Getränks namens Bidmesch, das ein wenig nach Orangenblüten duftete und unglaublich träge und sanft die Kehle hinunterrann. Wir unternahmen einen Versuch, in einem Lokal im Basar etwas zu essen, aber mit brutaler Entschiedenheit wurde uns erklärt: Farangi nadjiss, Europäer sind unrein. Der Sajjid konnte die Leute nicht einmal davon überzeugen, dass er ein guter Muselmann und ein Nachkomme des Propheten war, da er zu diesem Zeitpunkt einen europäischen Filzhut trug. Also aßen wir schändlicherweise in unserer Herberge und hatten einen heftigen Streit über das Thema Industrialisierung. Während unseres Gangs durch den Basar hatte der Sajjid lautstark darauf hingewiesen, wie hart die Kupferschmiede und die Silberschmiede arbeiteten und dass es doch viel besser wäre, wenn ihre Arbeit von Maschinen übernommen würde. Er hatte offenbar die in diesem Teil der Welt sehr verbreitete Vorstellung, dass Maschinen von ganz allein arbeiten. Ich versuchte ihm zu erklären, dass das Leben eines Fabrikarbeiters in Europa und Amerika kein Zuckerschlecken sei, und überlegte sogar, ob diese Kupferschmiede, so miserabel sie auch bezahlt waren, nicht ein besseres Leben haben als etwa ein Stahlarbeiter in Deutschland, trotz Kino und Kneipe, in denen er sich verlustiert. Doch der Sajjid überschüttete mich mit einer langen Aufzählung von Hungersnöten und Ausbeutung durch Würdenträger und Mudschtahids und Gouverneure. – «Nein», sagte er schließlich, «wir müssen Fabriken und Eisenbahnen haben. Dann werden wir eine große Nation sein.»
Am nächsten Morgen verließen wir die heilige und heruntergekommene Stadt Zendjan. Die Sonne glitzerte zauberhaft auf der Kuppel der Moschee, die in Form und Farbe an das Ei einer Wanderdrossel erinnerte. Am Nachmittag kam noch einmal diese Nadjiss-Geschichte auf. Wir tranken Tee in einem kleinen Straßencafé, als ein Hadschi mit karminrot gefärbtem Rauschebart, der in der Ecke saß und eine dicke Pfeife rauchte, sich bemüßigt fühlte, gegen unsere Anwesenheit zu protestieren. Doch der Sajjid ließ sich nicht einschüchtern. Er zitierte einen Vers von Saadi[18] über die Pflicht, Fremden höflich zu begegnen, und im nächsten Atemzug zitierte er ausführlich aus dem Koran-Abschnitt «Die Kuh». Plötzlich hielt er inne und forderte den Hadschi auf, dort weiterzumachen, wo er aufgehört hatte. Der Hadschi stotterte und stammelte, wusste nicht weiter und musste schließlich eingestehen, dass der Sajjid ein guter Muselmann und ein gebildeter Mann sei. Zur Versöhnung reichte er ihm sogar seine Pfeife.