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Als ich aufwachte, bot mir ein Engländer einen Drink an. Wir waren in Chanikin. Er kam von irgendwelchen Ölbohrungen im Norden. Wir saßen im trüben Licht des Schlafwagenabteils und sprachen über die Yeziden. Alle seine Arbeiter waren Yeziden, Teufelsanbeter. Er versuchte, Informationen über sie zusammenzutragen, aber es war sehr schwer, etwas Konkretes herauszufinden. Im Mittelpunkt ihres Kults steht eine Stadt beziehungsweise das Grabmal eines Scheich Aadi bei Mossul. Die Yeziden gelten als letzte Angehörige einer manichäischen Sekte. Sie haben ein heiliges Buch, aber Schreiben und Lesen sind ihnen verboten. Der Name Scheitan ist ihnen heilig, und alle S- und Sch-Laute sind aus ihrer Sprache verbannt. In manchen Nächten sollen sie rauschhafte Feste von jener Art feiern, wie sie den frühen Christen von den Römern nachgesagt wurden. Sie verrichten die niedrigsten Arbeiten, sind Straßenarbeiter und Straßenkehrer, ein paar Wohlhabende sind Gemüsegärtner. Sie glauben an die gnostische siebenfache Emanation Gottes, aber Scheitan verehren sie als Herrn dieser Welt in Gestalt eines goldenen Pfaus.

Schließlich gab es keinen Whisky mehr und keine Melone und nichts mehr über die Yeziden. Wir legten uns schlafen. Als ich aufwachte, war der Engländer verschwunden. Die Sonne erhob sich über einer weiten Ebene, staubig und baumlos wie ein New Yorker Hinterhof, gleichmäßig schlachtschiffgrau in allen Richtungen, ohne Hügel oder Häuser oder die leiseste Aussicht auf ein Frühstück.

IX

BAHNHOF BAGDAD

1. Engel auf Rädern

Man sitzt in einem Garten vor der American Bar am Tigrisufer unter mageren Palmen. Im Abendlicht hat der Fluss fast eine Farbe von Orangenschalen. An einem Feuer aus Palmstielen steht ein Araber mit gerafftem Gewand und brät in einer gigantischen Pfanne mit siedendem Fett Pommes frites. Kaum sind sie fertig, serviert er sie khakitragenden Angelsachsen, die ermattet japanisches Bier trinken und über Malaria, Mückenfieber und Durchfall sprechen. Runde Boote aus Schilf und Häuten (siehe Xenophon) fahren schaukelnd auf dem schnellen Strom. Gelegentlich schießt ein langer Kahn mit einer Laterne am Bug unter der Pontonbrücke hervor, die sich kaum von derjenigen unterscheidet, auf der Cäsar den Rhein überquerte. Bei japanischem Bier flammt der Tag gelb auf wie eine flackernde Laterne und verlöscht, es bleibt die Nacht, bleiben die tanzenden Lichter der Kähne, die Bogenlampen auf der Brücke und der sternenübersäte chaldäische Himmel.

Aus der Ferne dringt das Pfeifen einer Rangierlokomotive und das Rumpeln von Güterwagen über den Fluss. Die Bagdadbahn. Spöttisch ertönen die dieselgetriebenen Lokomotiven hinter dem Horizont. Oh, unvollendete Bagdadbahn, die den Sultan Schah Mulay Wilhelm Khan Pascha mit seinen Ländereien im Orient verbinden sollte, Popanz lebergeschädigter Kolonialoffiziere in Indien, mit dem Leben junger Männer gemästeter Moloch, Phantom auf gespenstischen Rädern, das von den Neunzigern des letzten bis in die tollen Jahre des neuen Jahrhunderts irrsinnige Züge fahren ließ, nur um in der großen blutigen Entgleisung des Krieges ein für alle Mal zerschmettert zu werden. Noch heute schwebt die apokalyptische Vision flammender Räder, die Indien mit Konstantinopel, Wien, Zürich, Berlin und Ostende verbinden, wie ein gieriger und strafender Engel über unseren Köpfen, während wir in der Dunkelheit am Tigris sitzen und japanisches Bier trinken und Pommes frites essen, die ein Araber über einem Feuer aus Palmstielen brät. Aus dem Himmel über uns blicken die alten Götter von Chaldäa ungerührt auf den Fluss und die Pontonbrücke und die Stabsfahrzeuge und die Kasernen und die verwahrlosten Rangierbahnhöfe und die Schützengräben und die Sodawasserfabriken und die ausgebrannten Basare und die Filmtheater und die großen wuchernden übelriechenden Flüchtlingslager.

«Nun ja», sagt der Dicke aus Illinois, der hier Därme für die Wurstfabriken von Chicago einkauft, «vielleicht ist dies einmal das Chicago des Nahen Ostens ... Aber es muss sich noch viel tun, bevor ich hier in Immobilien investiere ...» – «Weiß nicht, wenn ich in der Nähe des Bahnhofs eine Chance hätte», sagt der Armenier aus St. Louis ...

Es gibt keine Pommes frites mehr. Wir haben genug von japanischem Bier. Drinnen an der Bar werden die ersten Cocktails serviert. Ich bin allein in der Dunkelheit unter den mageren Palmen. In der Ferne ist das verrückte Pfeifgelächter der Lokomotiven zu hören.

Hesekiel am Fluss Kebar in der großen Sumpfebene sah ebenfalls Engel auf Rädern:

Und in der Mitte zwischen den Gestalten sah es aus, wie wenn feurige Kohlen brennen, und wie Fackeln ... Das Feuer leuchtete, und aus dem Feuer kamen Blitze ... Die Räder waren anzuschauen wie ein Türkis und waren alle vier gleich, und sie waren so gemacht, dass ein Rad im andern war ... Und sie hatten Felgen, und ich sah, ihre Felgen waren voller Augen ringsum bei allen vier Rädern. Und wenn die Gestalten gingen, so gingen auch die Räder mit.

2. Die Wasser zu Babel

Der Lokführer des Zuges nach Kut, ein Schotte, ließ mich freundlicherweise in Babylon aussteigen. In der grauen Ebene glich das einspurige Gleis zwei langen Sonnenstrahlen. Überall Erdhügel und Scherbenhaufen, die man sich als Überreste von Mauern, Ziegelsteinen, Ziggurats denken konnte. Das hier muss ungefähr die 125. Straße gewesen sein. Jeremias kannte sich in Babylon offenbar gut aus.

Ich will ihr Meer austrocknen und ihre Brunnen versiegen lassen. Und Babel soll zu Steinhaufen und zur Wohnung der Schakale werden, zum Bild des Entsetzens und zum Spott, dass niemand darin wohne.

Und Jesaja:

So soll Babel, das schönste unter den Königreichen, die herrliche Pracht der Chaldäer, zerstört werden von Gott wie Sodom und Gomorra, dass man hinfort nicht mehr da wohne noch jemand da bleibe für und für, dass auch Araber dort keine Zelte aufschlagen noch Hirten ihre Herden lagern lassen, sondern Wüstentiere werden sich da lagern, und ihre Häuser werden voll Eulen sein; Strauße werden da wohnen, und Feldgeister werden da hüpfen, und wilde Hunde werden in ihren Palästen heulen und Schakale in den Schlössern der Lust. Ihre Zeit wird bald kommen, und ihre Tage lassen nicht auf sich warten.

«Morgen», sagte der Anführer einer Truppe von zerlumpten, staubigen Straßenjungen, die mich in die Innenstadt lotsten. «Bonjour ... ich Babylon kennen ... bloody no good.» Die anderen riefen im Chor «Fluus[25], Mista» und tanzten mit aufgehaltener Hand um mich herum, Jesajas Feldgeister, keine Frage. Und so stiegen wir stundenlang in der Mittagssonne über Trümmerhaufen, bis wir schließlich, in der Gegend von Times Square, zum Löwentor kamen und zu dem Fundament einer großen Halle, von der angenommen wird, dass Belsazar dort sein berühmtes Fest feierte.

Endlich, schweißgebadet und mit staubvollem Mund, ließ ich mich unter einer Palme vor dem stehenden Gewässer niedersinken, der früher der Hauptarm des Euphrats war, und dachte über die erstaunliche Wirkung der Flüche nach, die «der ruhige Fürst» Seraja auf Anweisung Jeremias in ein Buch schreiben und das er, mit einem Stein beschwert, in den Euphrat werfen musste, auf dass mit ihm auch das Schicksal Babylons besiegelt sei. «Ein Glas Bier wäre jetzt schön», murmelte ich kaum hörbar. Die Straßenjungen saßen, die Hand noch immer ausgestreckt, in einem Kreis um mich herum. «Glas Bier», rief ihr Anführer, «subito.» Und rannte los in Richtung der Lehmhütten unter den Palmen.

Bald darauf kehrte er zurück mit einer Flasche Münchner Exportbier, kühl und beschlagen, und einigen Datteln in einem rosa Tuch. Das ging auf Jeremia. Und es war keine Fata Morgana. Als ich die Flasche ausgetrunken hatte, sagte der Junge erwartungsvolclass="underline" «Noch eins», und lief los, eine zweite zu holen. Durch das Münchner erfrischt, begannen die hängenden Gärten, den Staub abzuschütteln. Bel und Marduk saßen wieder in ihren Sternengemächern hoch oben in den Wolkenkratzertempeln, und Ischtars charmante Girls sangen unter den Palmen. Und zwar «Deutschland, Deutschland über alles».

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25

Fluus Geld (arabisch)