Währenddessen schlendern die Leute unter den Robinien umher, man lacht und trinkt, man plaudert und flirtet. Drei Mädchen, Arm in Arm, schießen in einen Seitenpfad, gefolgt von drei italienischen Seeleuten, sonnengebräunten kräftigen Burschen in weißer Uniform. Eine Gruppe griechischer Offiziere ist sehr ausgelassen. Ihre Armee hat Eskischehir erobert. Die Kemalisten sind im Begriff, Izmit zu räumen. Tino ist also doch ein großer König. Ihnen gegenüber zwei ältere Türken in Gehrock und weißer Weste, die seelenruhig an ihren Wasserpfeifen ziehen. Weiter hinten sieben Matrosen an einem runden Tisch, die sich lärmend betrinken. Am Tor steht ein italienischer Gendarm, in kompletter Uniform importiert, von den Knöpfen an den Rockschößen bis hin zu dem glänzenden Dreispitz, und ein britischer Militärpolizist, an dessen Ärmel die Buchstaben A. P. C. (für Allied Police Commission) prangen.
Warum wollen Sie Türkisch lernen?, fragt mich eine junge Griechin mit erstauntem Gesichtsausdruck. Sie müssen zu den Griechen halten, Sie sollten kein Türkisch lernen.
Plötzlich muss ich an die gelben Tische und Stühle unter der großen Platane neben der Bayezid-Moschee drüben in Stambul denken, an die Tauben und die alten Männer mit Bärten so weiß wie ihre weißen Turbane, ernst nickend in endloser Diskussion, und daran, wie der uralte Bettler, gelb wie zerschlissener Damast, knorrig wie ein absterbender Pflaumenbaum, mich um Feuer von meiner Zigarette bat und dann lächelnd auf das Glas Wasser neben meinem Kaffeetässchen zeigte und wie er sich, nachdem ich ihm das Wasser gereicht hatte, tief herunterbeugen musste, um zu trinken, sein Rücken war ganz krumm. Und an die majestätische Geste, mit der er das Glas wieder hinstellte und sich mit einem Gruß seiner knochig gerippten Hand bedankte. Diese Handbewegung erinnerte an ein schlankes Minarett und den Ruf des Muezzins und die gleichmütigen Augen der alten Türken in weißen Westen, die im Jardin de Taksim so ruhig neben den ausgelassenen Griechen saßen. Es gibt Gründe, Türkisch zu lernen.
Und wenn man vom internationalen Cabaret genug gesehen hat, von Russinnen, die ein paar Groschen für das harte Brot des Exils verdienen, von levantinischen Tänzerinnen und gestrandeten europäischen Sängerinnen, dann geht man auf der Grand Rue de Pera nach Hause. Am Straßenrand noch mehr russische Emigranten, Soldaten in abgetragener Uniform, die einst zur Wrangel-Armee[5] gehörten und nun auf kleinen Bauchläden, die sie an einer Schlaufe um den Hals tragen, alles nur Denkbare feilbieten – Papierblumen und Puppen, Schnürsenkel und Hampelmänner und kleine bunte Silhouetten von Moscheen und Zypressen unter Glas und runde und quadratische und rettungsringförmige Plätzchen. Es sind Männer jeden Alters und Standes, die meisten mit weißer nordischer Haut und blondem, kurzgeschorenem Haar, alle mit einem hungrigen Zug um die Wangenknochen und einem verschleierten Schmerz in den Augen. Durch die geöffneten Fenster der Restaurants kann man blasse Mädchen mit straff gebundenem Kopftuch sehen. An den Armen von zwei dicken Armeniern kommen zwei stark geschminkte Damen, beide in rosa volantbesetztem Kleid, zu den Klängen eines mechanischen Klaviers aus einer Gasse.
An einer Laterne steht ein einbeiniger russischer Soldat, große rote Hände vor das Gesicht geschlagen, und schluchzt laut.
3. Massaker
Der rote Plüschsalon des Hotels Pera Palace. Der Erzbischof, ein großer Mann in wehendem Schwarz mit einem schönen kastanienbraunen Wuschelbart und stechenden Augen, stößt einen heftigen griechischen Wortschwall aus. Seine Zuhörer sind eine Griechin in elegantem rosa Satinkleid, ein amerikanischer Marineoffizier, ein Journalist und diverse Figuren im Gehrock. Auf der anderen Seite des Raums werden zwei britischen Majoren Highballs mit klingelnden Eiswürfeln serviert. Der Erzbischof hebt eine schmale byzantinische Hand und bestellt Kaffee. Dann wechselt er ins Französische über, ein wenig lispelnd bei seinen langen, ausgewogenen Sätzen, die von den Wörtern horreur, atrocité, œuvre humanitaire, civilisation mondiale beherrscht werden. Die Türken in Samsun, die Kemalisten, die vor einigen Wochen die Männer orthodoxen Glaubens abtransportierten, haben inzwischen bekanntgegeben, dass auch die Frauen und Kinder abtransportiert werden sollen. Drei Tage Frist. Das bedeutet natürlich ... «Massaker», sagt jemand sofort.
Die vollen Lippen des Erzbischofs berühren den Rand seiner winzigen Kaffeetasse. Er trinkt schnell und penibel. Hinter dem roten Plüsch das Bild dunkler Menschenmassen, die sich über eine sonnengedörrte Landschaft schleppen. «Die Frauen sind weinend und klagend durch die Straßen von Samsun gezogen», sagt der Offizier. «Die Nachricht muss verbreitet werden», fährt der Erzbischof fort, «die Welt muss von der Barbarei der Türken erfahren. Amerika muss davon erfahren. Ein Telegramm muss an den Präsidenten der Vereinigten Staaten geschickt werden.» Wieder sieht man hinter roten Plüschsalons und den gedrechselten Formulierungen offizieller Telegramme die nächtlichen Straßen unter dem schrecklichen blutorangeroten Mond Asiens, zusammengedrängte Frauen in Staubwolken, die Kinder, denen der Wind in die dunklen, aufmerksamen Augen sticht, und in der Ferne auf den sonnenverbrannten Anhöhen sind Reiter zu hören.
In einem Sessel am Fenster schaut ein Türke mit ergrauten Brauen und Augen, weich und braun wie der Bart des Erzbischofs, ungerührt ins Weite. Die ovalen bernsteinfarbenen Perlen seiner Gebetskette gleiten durch seine unergründlich langsamen weißen Finger.
4. Das Attentat
Auszüge eines Briefes, veröffentlicht in der Spalte «Tribune Libre» der Presse du Soir, die allabendlich in Pera erscheint, zwei Seiten in französischer und vier in russischer Sprache:
Am achtzehnten Juni wurde mein Mann Bekhboud Djevanchir Khan ermordet.
Ich, die Unterzeichnete, seine Ehefrau, gebürtige Russin, vertraue auf Ihre Freundlichkeit, einige Fakten zu veröffentlichen, die den falschen Gerüchten, welche den Namen meines verstorbenen Mannes beflecken, ein Ende bereiten werden.
Ich bin nie von meinem Mann getrennt gewesen, und Gott hat mich zum Zeugen all der Schrecken der vergangenen Jahre gemacht.
März 1918. Das Wrack der russischen Armee schleppt sich zurück von der türkischen Front. In Baku liegt die Macht in den Händen von Armeniern, die sich auf die Seite der Bolschewisten geschlagen haben. Auf Befehl von unbekannter Seite kommt es zu einem geplanten, organisierten Massaker an der muslimischen Bevölkerung.
Nie werde ich diese schrecklichen Tage vergessen. Mein Mann wurde gesucht. Sein Name stand auf der Liste. Wie durch ein Wunder konnte er entkommen. Wir flohen aus der Stadt und konnten uns unter unvorstellbaren Entbehrungen nach Elisabethpol durchschlagen.
Monate vergingen. Andere kamen an die Macht, und mein Mann wurde zum Innenminister der ersten aserbeidschanischen Regierung ernannt. Türkische Abteilungen rücken auf Baku vor, und noch ehe sie die Stadt erreichen, kommt es zu den blutigen September-Ereignissen. Das war die schreckliche Antwort der Muslime auf das März-Massaker.
Mein Mann begibt sich sofort nach Baku, um diesen Unruhen ein Ende zu bereiten, doch bei seinem Eintreffen hat sich die Woge des nationalen Hasses gelegt. Der nationale Hass ist Klassenhass gewichen. Die Bolschewiki streben nach der Macht, und die Bevölkerung, erschöpft von nationalen und religiösen Konflikten, sieht in den Roten eine neutrale Kraft.
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