Jetzt lasse ich all die Züge hinter mir herjagen
Basel–Timbuktu
Ich habe auch bei Pferderennen gewettet in Auteuil
und Longchamp
Paris–New York
Jetzt jage ich all die Züge durch mein Leben
Madrid–Stockholm
Und meine Wetten habe ich alle verloren.
Nichts bleibt mir mehr, nur noch Patagonien, Patagonien, das
meiner grenzenlosen Traurigkeit entspricht,
Patagonien, und eine Reise in die Südsee
Ich bin unterwegs
Ich bin immer unterwegs gewesen
Ich bin unterwegs mit der kleinen Jehanne von Frankreich
Der Zug macht einen Salto mortale und fällt auf die
Räder zurück
Der Zug fällt zurück auf seine Räder
Der Zug fällt immer auf all seine Räder zurück
«Blaise, sag, sind wir weit weg von Montmartre?»
Wir sind weit weg, Jehanne, seit sieben Tagen bist du unterwegs.
Weit weg bist du von Montmartre, von diesem Hügel, wo
du aufgewachsen bist, von Sacré-Cœur, in deren
Schatten du gelebt hast
Verschwunden ist Paris und sein gewaltiges, hell loderndes Feuer
Nur die immerwährende Asche ist geblieben
Der Regen, der fällt
Der Torf, der sich vollsaugt
Sibirien, das vorbeiwirbelt
Die schwere Schneedecke, die sich ausbreitet
Und das Glöckchen des Wahnsinns, das wie ein
letztes Verlangen in der blauen Luft zittert
Der Zug zuckt wie ein Herz inmitten bleigrauer Horizonte
Und dein Kummer grinst dich höhnisch an ...
«Sag, Blaise, sind wir weit weg von Montmartre?»
Die Sorgen
Vergiss die Sorgen
All die heruntergekommenen, schiefen Bahnhöfe entlang
der Strecke
Die Telefondrähte, an denen sie hängen
Die fratzenschneidenden Masten, die gestikulieren und
sie erdrosseln
Die Welt streckt sich, dehnt sich und zieht sich zusammen wie
eine Harmonika, gemartert von sadistischer Hand
In die Risse des Himmels fliehen die Lokomotiven
In rasendem Taumel
Und in die Gruben
Die schwindelerregenden Räder, die Münder, die Stimmen
Und bellend hetzten die Hunde des Unheils hinter uns her ...
Und immer weiter geht es mit seinen Erinnerungen an zerrissenes, wirbelndes Metall, an Züge aus sechzig Lokomotiven, die unter Volldampf in Richtung Port Arthur verschwinden, an Krankenhäuser und Freudenmädchen und Juwelenhändler, Erinnerungen an das erste grandiose Projekt des zwanzigsten Jahrhunderts, gesehen durch schmutzige Fensterscheiben, in seinen Kopf gebleut vom ungleichmäßigen Rattern der breitspurigen Transsibirischen. Krähen am Himmel, Leichenberge am Bahndamm, brennende Krankenhäuser, eine unvorhergesehene Ausschmückung in diesem majestätischen Panorama von Flüssen und Seen und Bergen, das im grünlichen Dämmerlicht des Schuppens auf der Exposition Universelle vorbeizieht.
Dann haben wir Le Panama ou Les Aventures de mes Septs Oncles, sieben verschwundene Onkel, gewidmet dem letzten Franzosen in Panama, dem Barkeeper in Matachine, wo Chinesen sterben, wo zwischen ausrangierten Lokomotiven Virginia-Eichen wachsen, wo, bis auf einen großen, mit dem Wappen Ludwigs XV. versehenen Anker mitten im Wald, die Überreste von Lesseps’[36] Unternehmung verrostet und lianenüberwuchert dahinrotten.
In jener Zeit etwa habe ich auch die Geschichte gelesen
vom großen Beben zu Lissabon
Doch ich denke
Entscheidender war der Panamaskandal
Hat er doch meine Kindheit erschüttert.
Ich hatte ein schönes Bilderbuch
Und sah zum ersten Mal
Den Wal
Die dicke Wolke
Die Sonne
Das große Walross
Den Bären den Löwen den Schimpansen die Klapperschlange
und die Fliege
Die Fliege
Die entsetzliche Fliege
«Mama, die Fliegen! Die Fliegen! Und die Baumstämme!»
«Schlaf, mein Kind, schlaf.»
Ahasver ist dumm.
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Der Panamakrach war’s, der mich zum Dichter machte!
Es ist fabelhaft
Allen aus meiner Generation ging es so
Junge Leute
Die die seltsamsten Schicksalsschläge erlitten haben
Wir spielen nicht mehr mit Möbeln
Wir spielen nicht mehr mit altem Kram
Wir zerschlagen, wo immer wir sind, weiterhin Geschirr
Wir schiffen uns ein
Wir jagen Wale
Töten Walrosse
Wir leben dauernd in Angst vor der Tsetsefliege
Denn wir schlafen nicht gern ...
Phantastische Männer, diese Onkel. Einer war ein Metzger in Galveston, der bei dem Wirbelsturm von 1895 umkam, ein Zweiter war Goldwäscher in Klondike. Ein Dritter wandte sich dem Buddhismus zu und wurde beim Versuch gefasst, Engländer in Bombay in die Luft zu jagen; der Vierte war Kammerdiener eines Generals im Burenkrieg; der Fünfte war Küchenchef in Grand Hotels; der Sechste verschwand in Patagonien mit einem Haufen elektromagnetischer Präzisionsinstrumente; was aus dem Siebten wurde ist unbekannt.
Es war der zweite Onkel, der Gedichte im Stil von Musset schrieb und in San Francisco die Geschichte von General Suter las, dem Mann, der Kalifornien für die Vereinigten Staaten eroberte und den die Entdeckung von Gold auf seiner Plantage in den Ruin stürzte. Dieser Onkel heiratete die Frau, die das beste Brot im Umkreis von tausend Meilen machte, und wurde eines Tages mit einer Kugel im Kopf aufgefunden. Die Frau verschwand. Sie heiratete wieder und ist nun die Frau eines reichen Marmeladefabrikanten.
Blaise Cendrars schreibt inzwischen Gold, die Geschichte von General Johann August Suter, einen Roman, der die rasanteste, konziseste Geschichte nachzeichnet, die ich je gelesen habe, und wie ein Messer durch die Seichtheiten der zeitgenössischen französischen Literatur mit ihren zitronengelben Handschuhen und dem Parfüm und dem Weihwasser und ihrer Vorliebe für den Policier-Gentleman schneidet. Weil Cendrars, anders als die Vertreter der Quai-d’Orsay-Schule das für sich behaupten, tatsächlich ein internationaler Vagabund ist, hat er die grandiosen Rhythmen Amerikas von vor fünfundsiebzig Jahren einfangen können, deren Mythen unsere Generation gerade erst zu erschaffen beginnt. (Als ob irgendjemand wirklich etwas war; er ist ein guter Schriftsteller, belassen wir es dabei.) In Gold macht er aus der tragischen und turbulenten Absurdität von 1849 ein Feuerwerk. Alles ist so schnell vorbei, dass man es gleich noch einmal lesen muss, weil man befürchtet, etwas übersehen zu haben.
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