Die Sonne war untergegangen. Der Himmel hatte sich in flammende Flächen verwandelt, Topas, Smaragd, Amethyst. Lehne draußen vor meiner Tür an einer noch sonnenwarmen Säule, schaue hinaus auf den Platz, ringsum niedrige Gebäude mit bröckelnden ockerrosa Veranden. Vor dem krenelierten Bahnhof drei Spielzeuglastwagen. Niemand zu sehen, nicht einmal ein Hund. Die Größenverhältnisse ändern sich mit dem Licht am Himmel. Verlasse den kleinen Platz, stolpere auf der unendlichen Straße über einen purpurroten Berg. Ich strecke die Hand aus, will die weiße Wand eines Hauses berühren, sie liegt jenseits der Bahnstrecke, eine Meile entfernt. Das stachelige, büschelartige Gras sind Palmen, die in Formation durch einen Einschnitt im karminroten Fels marschieren. Die tiefe Schlucht hinter den Häusern entpuppt sich als Bewässerungsrinne im Sand. Frage mich, ob ich noch schlafe, und stolpere einen Felspfad hinunter, bewundere das breite Flusstal, trete hinein. Es war ein kleiner, fußbreiter Bach, der durch eine Ritze in der Mauer eines Dattelgartens sickerte. Unterdessen schraubte die Nacht rasch einen funkelnden Deckel auf ein unermessliches Chaos. Ein kühler Wind wehte. In Richtung Stadt flackerten ein paar Lagerfeuer. Eine Reihe zuckender Erdhügel waren schlafende Kamele; vermummte Gestalten scharten sich um die Feuer. Lampen in Hauseingängen, Schatten werfend. An einer Ecke standen drei algerische Soldaten in einem kahlen weißen Raum an einem grünen Tresen und tranken. Sie erklärten mir, dass Madame Mimosas Hotel an der nächsten Ecke sei. Dort gelangte man durch einen kleinen Kramladen in einen leeren Speisesaal, beleuchtet von einer Hängelampe, die Fensterläden fest verschlossen, damit kein Licht nach draußen in die Nacht drang.
Nach dem Abendessen, Truthahn und Wüstentrüffel und Weißwein aus Philippeville, wieder hinaus auf die menschenleere Straße. Die niedrigen Häuser mit flachem Dach verschwinden unter den Sternen. Angespannte Stille erfüllt die Nacht. Ich gehe wie ein Riese über den flachen Häusern vorbei, schrumpfe plötzlich wie ein fallender Expresslift unter den hohen Sternen, ein Knirps, der auf winzigen Beinen daherwankt, das Herz pocht, schwach sprudelt das Blut durch ein Gewirr unendlich kleiner Röhrchen. Feine Flötenklänge tröpfeln durch die gespannte Nacht, leises Trommeln von zwei müden Händen. Der Mann, der gegen seinen Willen Buchstabensuppe aß, ist vergessen. Der Ire mit dem künstlichen Gebiss ist vergessen. Die kühlen hellen Flötenklänge kommen von überall her, das Trommeln wird lauter und tiefer, formt atemlose prächtige Landschaften aus dem Dunkel. Der Amerikaner, der nach Osten nach Süden reist und gegen seinen Willen Buchstabensuppe aß, sucht in seinem Zimmer, im Schutz der Rauchglaslampe neben dem breiten knarrenden Bett, Zuflucht vor diesen wandernden Klangdünen. Das ist die Einsamkeit, rufende Stimmen in der Wüste. Er zieht sich aus, putzt die Zähne, ordnet seine Sachen, liest ein wenig Lukrez, tut, als sei er in Buffalo, Savannah, Noisy le Sec, Canarsie. Das Plätschern der Flöte hat sich in den immer drängenderen Dünen der Trommelschläge verloren. Der heilige Antonius einsam in der Wüste dunklen Fleisches, der undurchschaubar pochenden Wüste.
Der Ire mit dem künstlichen Gebiss war in Stambul aber nicht erschossen worden. Da er sich nicht in ein Krankenhaus wagte, wurde er von der Russin und ihrem Mann in einem alten Schafstall am Rande von Tophane gepflegt. Die drei fertigten Hampelmänner an, die die junge Frau mit Namen Olga abends vor dem Tokatlian verkaufte. Sie verkaufte mehr als das, und ihr Mann, der russischer Marineoffizier gewesen war, ohne je zur See gefahren zu sein, saß die ganze Nacht da und polierte stöhnend seine Stiefel. Der Ire stöhnte, weil ihn die Schulter schmerzte und weil er sein Gebiss verloren hatte. Sie sprachen französisch miteinander und lagen auf ausgemusterten Armeetragbahren, die ihnen als Bett dienten. Der Ire, der Jefferson Higgins hieß, war ein gälischer Pantheist. Als Kind hatte er in einem heruntergekommenen Milchgeschäft im County Cork lange Gespräche mit den Zwergen geführt. Der russische Offizier glaubte an Keuschheit und daran, das Fleisch zwecks Teufelsaustreibung mit Alkohol aufzuweichen. Trotzdem trank er nie. Olga glaubte an Hunger, Furcht und die Jungfrau Maria. Sie hasste Männer, ausgenommen diejenigen, die sie liebte. Während der langen Augusttage lagen sie auf den Tragen und sprachen über diese Dinge, während die Zikaden zirpten und Drachen am wolkenlosen Himmel ihre Kreise zogen. Sie liebte beide Männer und kaufte ihnen Essen und wusch ihre Wäsche, die sie zum Trocknen auf dem Dach des Schuppens aufhängte. Sie liebte die beiden und verhätschelte sie und bezeichnete sie als ihre kleinen Kindchen.
Der Marineoffizier machte für ihre elende Lage die, wie er sagte, hilflose russische Seele verantwortlich. Der Ire schob es auf die britische Regierung, Olga schob es auf die Menschheit. Wenn nicht die Läuse gewesen wären und das Problem des Rasierens, wären die beiden Männer glücklich gewesen,
Eines Morgens kam Olga mit einem Exemplar des Kommunistischen Manifests nach Hause. Es war dreisprachig, russisch, armenisch und georgisch. Sie hatte es von einem Taxifahrer aus Odessa geschenkt bekommen, der Ornithologe gewesen war. Er hatte sie auf sein Zimmer mitgenommen und sie zum Essen eingeladen. Da er ihr aber kein Geld geben konnte, hatte er ihr am Morgen das Kommunistische Manifest geschenkt.
Am nächsten Tag übersetzten sie es für Higgins. Der Mann und die Frau weinten und küssten sich. Sie müssten an etwas glauben, versicherten sie einander. Von nun an würden sie für Russland arbeiten, für den kommunistischen Christus und Menschheitserlöser. Sie würden Geld für ihre Heimreise verdienen. Olga würde die Jungfrau Maria aufgeben müssen, sie ähnelte zu sehr der Zarin. Er würde keine Hampelmänner mehr machen. Sie würde nie mehr ihren Körper verkaufen. Notfalls würden sie hungern. Sofort begann er, aus ein paar alten Brettern eine Art Sofa zu bauen, um Übung zu bekommen. Sie sah ihm mit leuchtenden Augen zu.
Jefferson Higgins ging derweil auf und ab und nagte zahnlos an seinem struppigen sandfarbenen Schnauzbart. Die Wunde heilte nicht richtig. Er befürchtete, sich Syphilis geholt zu haben. Er sehnte sich nach einem neuen Gebiss, Sauberkeit und frischer Bettwäsche und Piccadilly und dem Offiziersclub. Das ewige Geplapper der beiden Russen ging ihm auf die Nerven. Wenn er eine Waffe gehabt hätte, hätte er die beiden erschossen.
Als er Olga für sich allein hatte, bat er sie mit Tränen in den blauen Augen, ihn zu einem kommunistischen Treffen mitzunehmen. Es müsse doch kommunistische Agitatoren unter all den Russen in Stambul geben. Sein Leben habe sich von Grund auf verändert, seit jener Nacht, als Olga ihm in die Schulter geschossen hatte. Gott sei Dank habe sie ihn nicht getötet, warf sie sein und küsste ihn auf die Stirn. Nie wieder würde er für die Briten arbeiten. Er würde heimkehren und für die Unabhängigkeit Irlands arbeiten. Er würde den Roten alle Geheimcodes des britischen Geheimdienstes verraten. Als der Marineoffizier nach Hause kam, lagen sich Olga und der Ire in den Armen. Er will in die Partei eintreten, erklärte Olga. Der Russe schnappte sich den Iren und küsste ihn mehrmals auf den Kopf.
Tags darauf saß Jefferson Higgins, eine Zigarre im Mund und einen Panamahut auf dem Hinterkopf, in einem kleinen Zimmer des Pera Palace und tippte mit einer Hand einen Bericht. Er war anständig rasiert, der Schnurrbart ordentlich gestutzt. Er trug einen guten grauen Flanellanzug, den Arm mit einer sauberen Bandage an der Brust. Er hatte ein neues Gebiss, das nicht besonders gut saß, aber es waren immerhin Zähne. Er schrieb einen Bericht über Pläne der Bolschewisten, die alliierten Hochkommissare zu ermorden, die alliierten Soldaten zu einer Meuterei anzustiften und mit Hilfe der frustrierten Türken Konstantinopel für die Sowjetregierung einzunehmen. Gelegentlich hielt er inne und blies Rauchringe in die Luft. Dreimal wurde leise an der Tür geklopft. «Kitchener», sagte Jefferson Higgins leise. Ein untersetzter ergrauter Mann in der Uniform eines britischen Obersten trat ein. «Heute nicht Kitchener», knurrte der Oberst, «sondern Baden-Powell.» – «Ihre Stimme habe ich aber erkannt.» Er nahm ein paar getippte Blätter vom Tisch und pfiff leise durch die Zähne. «Das wird eine ganz dolle Nummer, sag ich Ihnen ...» – «Wir werden mit dem Gesocks aufräumen. Der Hochkommissar wird sich ziemlich gemein vorkommen, wenn er das sieht. Sie wissen, wann Sie aussteigen?» – «Jawohl, Sir.» Wortlos legte der Oberst einen amerikanischen Pass auf den Tisch, voller hübscher Sichtvermerke und ausgestellt auf Fernald O’Rielly, Vertreter einer Chicagoer Landmaschinenfabrik, sowie einen Kreditbrief von Lloyd’s Bank. «Am 15. Dezember berichten Sie in Schanghai gemäß Anweisung 26b», sagte der Oberst und verließ das Zimmer.