Выбрать главу

Anfang 1920 sind die Bolschewiki an der Macht, und sie gehen dazu über, mit den Vertretern der nationalen Parteien alte Rechnungen zu begleichen. Wir werden aus unserem Haus gejagt, alles wird uns weggenommen. Mein Mann wird von der Sonderkommission verhaftet und zum Tode verurteilt. Doch angesichts der Verhältnisse in Baku und dank seines großen Einflusses müssen die Sowjets ihn freilassen. Trotz wiederholter Bemühungen wird ihm die Ausreise verweigert, denn sie wissen, dass er Bergbauingenieur und einer der besten Spezialisten in der Erdölbranche ist. Das Schicksal will es, dass ihm ein Posten im Kommissariat für auswärtige Angelegenheiten angeboten wird, was die Chance einer Entsendung ins Ausland bietet.

Mein Mann willigt ein. Und bald darauf reisen wir nach Konstantinopel. Hier erwartete ihn der Tod. Ein Attentäter beendete das Leben meines Mannes, dessen einziges Verbrechen es war, vor allem sein Volk und sein Land zu lieben, dem er sein Studium, seine Arbeit und überhaupt sein ganzes Leben gewidmet hatte.

Zwei Worte noch zu den Gerüchten, dass mein Mann seine Genossen von der «Moussavat»-Partei[6] verraten hat und deswegen zum Tod verurteilt wurde. Für all jene, die den Verstorbenen auch nur flüchtig kannten, sind diese Gerüchte so absurd, dass ich mir die Mühe erspare, ihnen entgegenzutreten. Die glorreiche Erinnerung, die all seine Freunde an den Verstorbenen haben, wird durch solches Gerede nicht beschädigt werden können.

Ich bin, mit ergebenen Grüßen, etc.

5. Der Halbmond

Im Innenhof der Bayezid-Moschee werden Bernsteinperlen verkauft, und die Schreiber und öffentlichen Notare haben ihre Tische und Stühle. Wohltäter haben Geld für die Fütterung der Tauben gestiftet, die zwischen den gefleckten Platanen herumfliegen und auf dem Rand des marmornen Waschbeckens sitzen und trinken und den Schnabel aufrichten, so dass bei jedem Schluck ihre Kehle schimmert. Eines grellen Mittags stand ich an einer kühlen Granitsäule und beobachtete einen Beduinen im weißen Burnus, der einem Schreiber einen Brief diktierte mit den Gesten eines Kaisers, der ein Edikt für eine eroberte Stadt formuliert, als ich einen unablässigen Menschenstrom durch das hohe Portal der Moschee gehen sah. In meiner Neugier wagte ich mich etwas näher heran, worauf ein junger Mann, der eine grüne Seidentroddel an seinem bernsteinfarbenen Gebetskranz hin und her schwenkte, mich hereinwinkte. Ein alter Mann schob mir dienstfertig große Pantoffeln über die Schuhe, und dann trat ich über die hohe Schwelle. Der weite, von einem roten Teppich bedeckte Boden unter der Kuppel und die seitlichen Podien waren voller Männer, Bettler und Lastträger und Handwerker mit Lederschürzen und kleine Jungen mit viel zu großem Fes auf dem runden Kopf und stattliche Herren in Gehrock und weißer Weste mit dekorativer Uhrenkette und theologische Studenten mit ordentlich gebundenem weißen Baumwollturban und würdevollem Bart, sie alle saßen dicht gedrängt, die Schuhe neben sich. Ein heller Sonnenstrahl fiel durch die perlschimmernde Kuppel direkt auf das bronzefarbene Gesicht und den Bart des Mullahs, der aus dem Koran las, und tauchte die Seidenbehänge der Kanzel in ein intensiv leuchtendes Magenta. Der Prediger las mit hölzerner Stakkatostimme und mit leichten rhythmischen Bewegungen, und am Ende eines jeden Verses brummte die Menge ein leises Amin.

«Es geht um den Fall von Adrianopel, in jedem Jahr an diesem Tag», flüsterte mir der junge Mann mit der grünen Troddel an seinem Gebetskranz auf Französisch ins Ohr. «Viele dieser Männer kommen aus Adrianopel, sie sind vor den Griechen geflohen ... Sie erinnern sich.»

Der Koranleser stieg nun schwerfällig hinunter, vorbei an dem magentafarbenen Seidenbehang, und ein größerer Mann mit vollen Lippen und dunklen, geröteten Wangen unter hohlen Augen nahm seinen Platz ein.

«Er wird nun für die Armee in Anatolien beten.»

In aufrechter Haltung, den Blick direkt in das Sonnenlicht gerichtet, die Hände in Barthöhe, sprach der neue Mullah ein Gebet voller harter Konsonanten und kühn aufsteigender Satzmelodien. Seine Stimme war wie Pauken und Trompeten. Und in der ganzen Moschee, unter der bläulichen Kuppel schauten die Männer über die Innenfläche ihrer erhobenen Hände auf die magentafarben leuchtende Seide und den Prediger, der in dem gelben Sonnenstrahl betete, und das gemurmelte Amin bei jeder Pause wurde lauter und lauter, wurde heftig und atemlos, bis die Glaslämpchen an den großen flachen Leuchtern über den Turbanen und Fesen klingelten, stieg in die Höhe und erschütterte die riesige Kuppel, so wie die Kuppeln der Kirchen vom Ruf der Heerscharen des Islam erschüttert wurden, als die Stadt Konstantins erobert und der letzte Konstantin in seinen purpurfarbenen Stiefeln getötet wurde.

Am Ausgang erhielt jedermann ein Kärtchen mit einer Darstellung der großen Moschee von Adrianopel und ein Papiertütchen mit Kerzen.

6. Ouzo

Die runden Blättchen des Basilikumtopfs auf dem Tisch des Cafés verströmen einen zarten Duft. Auf einem von rotem Boi eingerahmten Podium produzieren Musiker, summend und zupfend, endlos auf- und absteigende Arabesken in Moll. Es gibt eine Art Laute, eine Zither, eine Violine und eine Sängerin. In der Mitte steht ein Hocker mit Kaffeetassen und einer Flasche Ouzo. Die Zither spielt ein ergrauter Mann mit Hakennase und Brille, der manchmal den Kopf zurückwirft und mit weit geöffnetem Mund eine gregorianische Melodie jodelt, die die anderen aufgreifen und mühsam in das Klanggewebe einfädeln. An den vollbesetzten Tischen unter der Robinie, wo am Nachmittag Schatten ist, sitzen sie mit Nargilés oder Zigaretten oder deutschen Pfeifen oder amerikanischen Zigarren, trinken Anisschnaps und Bier und Kaffee und sogar Wodka. Es riecht nach Tabak und Holzkohle und Anis von dem Pastis und Ouzo und nach gegrilltem Fleisch von den Schisch-Kebab-Spießen, dazu das Durcheinander vieler verfeindeter Sprachen und die Schritte auf der Straße unterhalb der Terrasse.

Stütze das Kinn auf die Hände und schaue hinunter auf das rissige und staubige Stückchen Gehweg zwischen den nackten Füßen der Jungen, die an der Mauer stehen und Gebäck und Pistazien und fliegenübersäte Bonbons verkaufen, und die Droschken, deren Fahrer, meist Russen in geflickten Uniformen, in den langen Nachmittagsstunden dasitzen und schlafen und plaudern und auf Kundschaft warten ... Jenseits davon Schuhe, Füße, Beine, verschränkte Arme, schwingende Arme, gebeugte Schultern, muskulöse Rücken unter dünner Baumwolle, braune, schweißbedeckte Oberkörper, Schals, schwarze Schleier, Yaschmaks[7], Gesichter. Das ganze Leben spiegelt sich im Gesichtsausdruck. Ein Junge, die Haut von der Farbe eines Tonkrugs, Augen und Lippen eines trunkenen Bacchus, geht lässig vorbei, auf dem Kopf ein Tablett mit geröstetem gelben Mais. Ein Mädchen trippelt wie ein Mäuschen, das gesenkte Gesicht weiß wie eine Fresie hinter dünnem schwarzen Schleier. Ein weißbärtiger Mann in blauem Gewand, die Augen rotgerändert und trüb wie Mondsteine, wird von einem kleinen braunen Knaben geführt. Zwei Hammals, ein jeder stark genug, ein Klavier ganz allein zu tragen, mit ausgeprägt stumpfen Gesichtszügen und dem schwarzen Bart assyrischer Bogenschützen. Drei Russen, blond und breitbrüstig, etwa gleich groß, straffsitzende weiße Leinenbluse unter dem Gürtel, blaue Augen, alles an ihnen wirkt frischgewaschen, das Haar gescheitelt und angeklatscht, wie sonntäglich gekleidete Kinder. Ein dicklicher griechischer Geschäftsmann im Strandanzug. Engländer, krebsrot und steif. Aggressive, kantige Marineoffiziere, die mit larvenartigen Bettelkindern spielen. Bleichgesichtige Levantiner mit schmalen Augen und Hakennasen. Armenier mit missmutigem Mund und großen goldbraunen Augen. In der hellen Sonne und den jähen Schatten verschwimmen die Gesichter der Passanten. Gesichter glatt und gelb wie Melonen, stählern wie Äxte. Gesichter wie Kürbisse, wie Totenköpfe und Halloweenlaternen und Kokosnüsse und sprießende Kartoffeln. In dem brutal gleißenden Licht verschwimmen braune Gesichter unter einem Fes, gelbe Gesichter unter Strohhüten, blasse nordische Gesichter unter Khakimützen zu einem Gesicht, die Brauen mürrisch und zusammengezogen, die Augen leidensschwarz, straffe Haut über den Wangenknochen, hungrige Linien um die Mundwinkel, die Lippen unruhig, neidisch, wütend, sinnlich. Das Gesicht eines Mannes, der noch nicht ganz verhungert ist.

вернуться

6

Moussavat-Partei «Partei der Gleichheit», muslimische Partei in Aserbeidschan, gegründet 1911, von 1918 bis zur Machtergreifung der Bolschewiken und dem Ende der unabhängigen Republik 1920 an der Regierung beteiligt

вернуться

7

Yaschmaks Schleier muslimischer Frauen