Die hier publizierten Texte über seine Orientreise ragen jedoch weit über das Spanienbuch hinaus: Neben ihrem rein literarischen Wert sind sie ein einzigartiges Zeugnis für die durch den Ersten Weltkrieg und den Bolschewismus verursachten Umwälzungen aller Lebensverhältnisse im Kaukasus und im östlichen Mittelmeer. Der «Orient», wie er bis heute durch unsere Nachrichtensendungen geistert, hat sich in dieser Zeit überhaupt erst herausgebildet. Nur wenige Jahre zuvor wäre diese Reise (eigentlich sind es zwei, 1921 in den Nahen Osten, 1926 nach Marokko) eine vollkommen andere gewesen, kaum der hier beschriebenen vergleichbar, mit anderen Gesprächen, anderen Szenen, anderen Empfindungen und Stimmungen.
Denn der Erste Weltkrieg war 1921 im Nahen Osten noch gar nicht richtig beendet. Auf der Agenda der europäischen Siegermächte, der Entente vor allem Frankreichs und Englands, stand die vollständige Neuaufteilung des Nahen Ostens. Das Osmanische Reich, als Verbündeter Deutschlands nach einigem Zögern Ende Oktober 1914 in den Krieg eingetreten, war 1918 zusammengebrochen. England hatte aus dem von ihm kontrollierten Ägypten die arabischen Unabhängigkeitsbewegungen gegen die osmanische Herrschaft unterstützt, welche damals ein Gebiet umfasste, das ungefähr den heutigen Staaten Saudi-Arabien, Golfemirate, Israel/Palästina, Irak, Jordanien, Syrien und Libanon entspricht. Oberst Thomas Edward Lawrence, der legendäre «Lawrence von Arabien», hatte König Hussain (1854–1931), dem Herrscher über den Hedjaz und damit über die heiligen Städte Mekka und Medina, als Gegenleistung für den gemeinsamen Kampf gegen die Osmanen (als deren Statthalter Hussain den Hedjaz bis dahin regiert hatte) einen unabhängigen arabischen Großstaat versprochen, dessen genaue Grenzen freilich noch auszuhandeln wären. Unterdessen planten Engländer und Franzosen im zunächst geheimen Sykes-Picot-Abkommen (1916) die Aufteilung des Nahen Ostens in zwei gleiche Interessensphären ohne Berücksichtigung der arabischen Wünsche. Woodrow Wilson, der amerikanische Präsident, mischte mit seinen «Fourteen Points at Baries» (wie es im Original, die arabische Aussprache von «Paris» persiflierend, heißt) ebenfalls mit und versprach den Völkern des Nahen Ostens nach dem Ende des Krieges die Selbstbestimmung – oder zumindest die «ungestörte Gelegenheit zur selbständigen Entwicklung», was immer dies heißen mochte.
Zusätzlich zu diesen Doppeldeutigkeiten unterstützten die Briten nicht bloß König Hussain, für den Lawrence als Verbindungsoffizier zuständig war, sondern ebenso seinen ärgsten Konkurrenten auf der arabischen Halbinsel, Abd al-Aziz Ibn Saud (1880–1953), dessen Verbindungsoffizier Hauptmann William Shakespear (sic!) war. Die Nachrichten über Ibn Sauds Sieg im zukünftigen, nach ihm benannten Saudi-Arabien, erreichen Dos Passos am sechzehnten Tag der Karawanenreise nach Damaskus. («Im Nedschd wird anscheinend nicht mehr gekämpft.») Die Söhne des von Lawrence unterstützten Emirs Hussain waren inzwischen mit dem Segen der Mandatsmächte zu Königen Syriens (Faisal, geb. 1885; von ihm ist auf der Karawanenreise öfter die Rede) und Transjordaniens (Abdallah, 1882–1951) ausgerufen worden. Aber Faisal, wiewohl selbst ein Fremder in Syrien, rebellierte gegen die französische Vorherrschaft im Land (vgl. den Eintrag am siebenunddreißigsten Tag der Karawanenreise: «Leute in geheimnisvollen Höfen, die Anhänger von Faisal waren und gegen die Franzosen konspirierten») und wurde vertrieben. Als «Ersatz» wurde er von den Briten zum König des Irak ernannt (von 1921 bis zu seinem Tod 1933), wo die Briten ebenfalls mit Aufständen zu kämpfen hatten.
Dabei muss man wissen, dass diese Länder zwar dem Namen nach, nie jedoch als klar voneinander abgegrenzte Staaten oder auch nur eindeutig definierte Verwaltungsbezirke existiert hatten. Die damals von England und Frankreich gezogenen, zum größten Teil bis heute bestehenden Grenzen waren künstlich und werden nach wie vor von den meisten Menschen der Region als künstlich empfunden. Willkürlich zerschnitten sie seit langem zusammengehörige, historisch gewachsene Landschaften, trennten Verwandtschafts- und Handelsbeziehungen und widersprachen eklatant der nomadisierenden Lebensweise vieler Menschen der Region. Der aufmerksame Leser dürfte es bemerkt haben: Dos Passos reist von Teheran bis Damaskus ohne jegliche Pass- oder Grenzkontrollen, und ohne Grenzkontrollen wäre er auch bis Gaza gekommen, wenn er gewollt hätte – eine heutzutage unvorstellbar traumwandlerische Art, den Nahen Osten zu bereisen!
Ähnlich wie in den arabischen Ländern, wenngleich mit einer anderen Vorgeschichte, sah die Lage in Iran aus, wo sich im 19. Jahrhundert Großbritannien, Russland und das Osmanische Reich um Einfluss stritten. Im Ersten Weltkrieg war das Land zwar neutral, aber die Großmächte trugen ihre Kämpfe auch auf iranischem Boden aus. Mit der Oktoberrevolution zogen die Russen ab, die Osmanen waren ein Jahr später besiegt, und 1921 riss der pro-britische, auf radikale Reformen nach dem Vorbild Atatürks setzende Kosaken-Oberst Reza Khan die Macht an sich. 1925 ließ er sich zum Schah krönen – sein Sohn, Mohammed Reza, wurde 1979 durch die islamische Revolution von Ayatollah Khomeini gestürzt. Die Vorbehalte des Sayyids gegen die Engländer dürften vor diesem historischen Hintergrund niemanden erstaunen. Erstaunlich, wenn nicht alarmierend ist jedoch, wie sehr in Ost und West die politischen Positionen von damals noch den heutigen ähneln.
Besonders reizvoll für den deutschsprachigen Leser dürften die Reminiszenzen an die im Ersten Weltkrieg zerschellten deutschen Kolonialambitionen sein. Tatsächlich kann Dos Passos auf der Stippvisite in Babylon seinen Durst mit echtem deutschen Bier löschen. Die Bahnlinie von Berlin nach Bagdad war das große Prestigeprojekt Kaiser Wilhelms, der Versuch, den britisch dominierten Nahen und Mittleren Osten für den deutschen Einfluss zu öffnen. Ironischerweise gelangte nur das Bier, nie aber eine deutsche Eisenbahn nach Bagdad!
Weitaus unmittelbarer als auf dem Weg von Teheran nach Damaskus wird die Zeitgeschichte jedoch auf der ersten Hälfte der Reise erfahrbar. Die meisten Istanbul-Touristen kennen den Taksim-Platz und die von dort nach Galata (heute Karaköy) hinabführende, nach wie vor von der pittoresken hölzernen Straßenbahn befahrene Istiqlal-Straße, die bei Dos Passos noch «Grand Rue de Pera» heißt. Aber welch wunderliches Personal bevölkert die Stadt im Sommer 1921, als der fünfundzwanzigjährige Dos Passos dort eintrifft! Alliierte Soldaten, russische Kriegsgefangene, italienische Gendarmen, Griechen, sei es in Gestalt von Offizieren oder hochnäsigen älteren Damen, aserbaidschanische Diplomaten und armenische Spione – die Türken selbst erscheinen geradezu in der Minderheit, und ganz offenbar hatten sie nichts zu sagen. Istanbul war 1920 von den Engländern unter Kriegsrecht gestellt worden, und es war keineswegs klar, welchem der nahöstlichen Akteure der Goldene Apfel zufallen sollte; der türkische Rumpfstaat, den Mustapha Kemal («Atatürk») und andere osmanische Offiziere in Anatolien mit Ankara als neuer Heimat der «Großen Nationalversammlung» unabhängig halten konnten, war der am wenigsten aussichtsreiche Kandidat. Doch was den europäischen Mächten im Fall des arabischen Nahen Ostens zunächst gelang, scheiterte im Fall der Türkei kläglich. Nur zwei Jahre nach dem Besuch von Dos Passos in Istanbul war es vorbei mit dem Gewimmel von Soldaten und Glücksrittern aus aller Herren Länder, denn 1923 wurden im Frieden von Lausanne die Grenzen der heutigen Türkei festgeschrieben. Die Istanbul-Passagen in diesem Buch sind wohl das einzige Zeugnis über diese (von türkischen Autoren häufig behandelte) Zeit aus der Feder eines abendländischen Schriftstellers von Weltrang.