Nicht weniger turbulent als am Bosporus geht es in den anderen Hauptstädten dieser Reise zu. Dos Passos fährt zunächst mit dem Schiff nach Batum am Ostufer des Schwarzen Meeres. Die Reise über Land durch Anatolien wäre wegen des Kriegs der türkischen Truppen gegen die Alliierten kaum möglich, in jedem Fall sehr gefährlich gewesen. In Armenien, Georgien und Aserbaidschan war der Krieg zwar schon vorüber, seine verheerenden Folgen waren dafür umso sichtbarer.
Der Zusammenbruch des Osmanischen Reiches hatte die kaukasischen Republiken, immer schon ein Zankapfel zwischen Osmanen, Russen, Briten und Iranern, wieder dem Einflussbereich der Russen zugespielt. Unmittelbar nach der Oktoberrevolution und dem Kriegsaustritt Russlands hatten sich die kaukasischen Republiken zunächst auf osmanischen Druck hin für unabhängig erklärt; nach dem Zerfall des Osmanischen Reiches 1918 wurde der Kaukasus dann von den Alliierten besetzt. Die kriegsmüden Truppen wurden jedoch bald abgezogen, nur die Hafenstadt Batum, die gemäß dem (von Deutschland diktierten) Friedensvertrag von Brest-Litowsk mit dem bolschewistischen Russland der Türkei zugeschlagen werden sollte, blieb bis März 1921, also nur wenige Monate, bevor Dos Passos dort eintraf, in britischer Hand. In Aserbaidschan und Armenien, die sich wie Georgien Hoffnung auf eine Unabhängigkeit gemacht hatten und wo die Bolschewiken nur über wenig Unterstützung in der Bevölkerung verfügten, marschierten die Sowjets hingegen bereits 1920 ein. Unter dem Deckmantel eines von den Bolschewiken angezettelten Aufstands wurde dann als letzte der Kaukasusrepubliken im März 1921, gleichsam unter den Augen der Briten, Georgien von der elften russischen Armee erobert.
War die Nahrungsmittelsituation nach dem Ersten Weltkrieg überall im Nahen Osten prekär, so wurde sie in den von der Sowjetunion neu eingegliederten Republiken durch die bereits bestehende Hungersnot in der Restsowjetunion katastrophal verschärft. Weit über fünf Millionen Menschen starben zwischen 1918 und 1922 in den von den Bolschewiken beherrschten Gebieten den Hungertod. Wie fatalistisch, um nicht zu sagen brutalisiert die Zeitstimmung war, bezeugt eine bekannte Aussage Gorkis aus dem Jahr 1921: «Ich nehme an, dass von den 35 Millionen Hungernden die Mehrheit sterben wird.» Dieser sich gegen jedes Mitleid abschottende Fatalismus klingt noch in der kühlen Beobachterhaltung von Dos Passos durch. Er registriert die Verwüstungen, die Zerstörung der traditionellen Lebensverhältnisse, das Elend, die Hungertoten. Aber er wertet nicht. Die Erkenntnis, die er aus dem Gesehenen zieht, sein Fazit, ist nicht moralisch oder politisch, sondern philosophisch und anthropologisch (tatsächlich war Dos Passos in Paris im Jahr 1922 an der Sorbonne kurzzeitig für das Fach Anthropologie eingeschrieben). In Batum sinniert er über die «Dämmerung der Dinge» («The Twilight of Things»). Die entwerteten, nunmehr bedeutungslosen, vormals aber das ganze Sein der Menschen ausmachenden Dinge (man denkt unwillkürlich an Heideggers «Zeug»), die er im Kramladen eines alten Mannes, «dem letzten Hüter der Dinge», in Hafennähe entdeckt, erscheinen als ein Vanitas-Gemälde, das zugleich die Verlorenheit des mit der neuen Zeit konfrontierten Menschen selbst spiegelt. Man könnte meinen, dass sich Dos Passos mit diesen philosophisch grundierten Reflexionen gegen die Schrecken des Gesehenen abschottet; indem sie ihn zu einem fast unterkühlten Betrachter machen, ermöglichen sie es ihm, unerschrocken hinzusehen.
In diesem distanzierten Blick liegt der Keim zu zwei grundverschiedenen Weltanschauungen: Sind wir Zeugen und Opfer eines zivilisatorischen Quantensprungs, mussten sich Dos Passos und seine Zeitgenossen fragen, also eines wie auch immer gearteten Fortschritts, oder werden wir von einer sich zyklisch im Kreis drehenden Geschichte sinnlos zermahlen? Es ist diese Frage, mit der der Bericht in Marokko schließt, bevor der Reisende ins Postflugzeug steigt: Sind all die Verrücktheiten der Moderne auch nur annähernd so viel wert wie die Schläfrigkeit des Haschischrauchers und das Lob Gottes in der Wüste? Es ist eine der Stärken des vorliegenden Textes, dass diese Frage nicht entschieden wird, sondern offen bleibt, gestellt uns Lesern der Jetztzeit.
Auch was die literarischen Mittel betrifft, wir hatten es angedeutet, ist dieser Reisebericht wegweisend und könnte es noch für heutige Reiseschriftsteller sein. Wenn von der Ermordung des aserbaidschanischen Gesandten in Istanbul erzählt wird, erfahren wir gleichsam nebenbei auch, wie nach der Eroberung des Kaukasus durch die Sowjets die Nationalisten der jeweiligen Länder bis ins Ausland verfolgt wurden. Die Hintergründe der Tat werden in dem offenbar wörtlich wiedergegebenen Brief erläutert, den die Witwe des Gesandten daraufhin in der Tribune Libre publizierte. Dieser Brief wirkt im ersten Moment wie ein Fremdkörper. Das Verfahren ähnelt jedoch der Art und Weise, wie auf dem Weg nach Teheran die politischen Gespräche mit dem Sayyid wiedergegeben werden. In beiden Fällen wird ohne Kommentar und Wertung eine Sichtweise auf das Weltgeschehen geboten, wie sie abendländische Leser selten zu hören bekommen. Es ist die Stimme der Betroffenen, die hier erklingt. Der Reisende ist nur noch ein Medium.
Zuweilen wirken diese kommentarlos in den Text eingestreuten O-Töne wie mit einer Firnis von Ironie versehen, ein Eindruck, der durch Verballhornung der Namen westlicher Politiker (Jurj Washiton, Mister Vilson) in der Rede eines jungen Mannes aus Bagdad noch gesteigert wird. Es ist aber ganz dasselbe Verfahren wie in den großen Romanen Manhattan Transfer und U.S.A., die als Collage aus Wahrnehmungsschnipseln, Szenen, O-Tönen, Berichten und Berichten von Berichten erscheinen, wobei der Erzähler ebenfalls weitgehend hinter seine Quellen zurücktritt, als wäre er nur ein Arrangeur vorgefundenen Materials. Zur selben literarischen Technik dürfen die vielen fremdsprachigen, vor allem arabischen Einsprengsel gezählt werden, die dem Text immer wieder eine Aura besonderer Authentizität verleihen: schwajja, inschallah, fluus, aber auch das im Original deutsche Bahnhof Bagdad; und im aserbeidschanischen Dschulfa heißt es am 21. August im Original «That evening politik, as the Sayyid calls it».
Gleichwohl verschwindet im Reisebericht das Subjekt des Erzählers nie zur Gänze, und im Lauf der Erzählung ist nach und nach immer mehr von den Stimmungen und Gefühlen des Reisenden die Rede. An keinem Punkt aber sind wir dem Erzähler – und er sich selbst! – so nah, wie während des siebenunddreißigtägigen Karawanenzugs von Bagdad nach Damaskus: «Es ist die feinste Sache auf der Welt, keine Uhr zu haben und kein Geld und für nichts Verantwortung zu empfinden» (Sechster Tag). «Ich bin nie so glücklich gewesen» (Siebzehnter Tag). Das Ideal des Reisens, das Dos Passos in diesen Tagen erfährt, ist jedoch bereits melancholisch angehaucht. Er ahnt, dass er eine im Untergang begriffene Welt bereist, und stellt die bange Frage: «Gab es genug Kif auf der Welt, die atemlosen Begierden zu ertränken, den Gedanken an die nächste Sensation, die Feierabendhektik von Bahnhöfen, den Irrsinn der Städte in der Dämmerung, die Räder, die Maschinen, das endlos abrollende Druckpapier?» Natürlich, wissen wir heute, gab es nicht genug. Wie auch? Denn «kein Gott ist stark genug, der Universal Suburb zu widerstehen», dem Evangelium Henry Fords «von Arbeitsteilung und Standardisierung».
Vom Orient, den Dos Passos schildert, dessen Ende er vorausahnte und dessen Anfang vom Ende er mit ansehen konnte, sind heute nur noch Inseln übrig geblieben. Die Kifraucher gibt es noch, aber auch sie sind längst nicht mehr so gelassen wie früher; die Kamelkarawanen ziehen noch, aber nur für Touristen. Der in den Reden des Sayyids anklingende, durchaus nachvollziehbare Hass auf die westliche Politik ist, wie bekannt, nicht kleiner geworden; aber auch nicht die schon damals beklagte westliche Durchdringung des Orients. Die Bagdadbahn, deren weitestes Teilstück übrigens nie nach Bagdad, sondern nur bis nach Medina führte, ist längst aufgegeben und zu einer Art Freilichtmuseum für Wüstenreisende geworden; und Eisenbahnabenteuer in der Art von Dos Passos’ Fahrt durch den Kaukasus kann man selbst in Pakistan, das in dieser Hinsicht immer noch einige Überraschungen bietet, nicht mehr in solcher Reinform genießen. Was aber Marokko betrifft, so ist dort das Postflugzeug längst von den Billigfliegern abgelöst worden; und Marrakesch und Essaouira (Mogador) gelten inzwischen als die Party-Location Nr. 1 für die Jeunesse dorée aus aller Herren Länder.