Diese Gesichter sind die Noten, die auf den vibrierenden Saiten dieses Gewirrs enttäuschter Existenzen namens Pera gezupft werden. So viele Fäden führen aus diesem Labyrinth heraus. Wenn man nur zurückgehen könnte in die steil ansteigenden, schmutzigen Straßen, vorbei an den überhängenden schwarzen Holzhäusern, von denen dickbeinige Frauen mit kajalgeschminkten Augen hinabschauen zu den Trägern, die unter ihrer schweren Last die ausgetretenen Stufen hinaufwanken und dermaßen schwitzen, dass ihnen das Rot ihres Fes in Streifen über die hageren und unrasierten Wangen läuft; durch plötzlich platanengesäumte Gassen, die gelegentlich einen Blick freigeben auf unglaublich weites blaues Meer oder erdfarbene Hügelketten zwischen schiefen und fein gearbeiteten türkischen Grabsteinen, die hinausführen zu den weglosen Schutthaufen abgebrannter Orte, zu einer eingestürzten Kuppel mit einem bröckelnden Minarett, zu Ruinen oder verfallenen Zisternen, in denen Gelegenheitsdiebe und Obdachlose hausen; oder hinunter durch die Straßen von Galata mit ihren Obstständen und den Griechinnen, die auffordernd in der Tür stehen, und den Matrosenkneipen, in denen mechanische Klaviere klimpern oder eine Blaskapelle spielt und das Tanzen der engumschlungenen Paare an die Wellenbewegung des Meeres erinnert; oder durch die kühlen Basare von Stambul, wo im Halbdunkel unter dem azurblauen Gewölbe persische und griechische und jüdische und armenische Händler bedruckte Stoffe und Manchesterware ausbreiten, die ein einzelner stauberfüllter Sonnenstrahl in ein flammendes Farbmeer verwandelt; oder zu den Palastruinen am Bosporus, in denen Flüchtlinge von irgendwoher in lähmendem und beengtem Elend hausen; oder in die prachtvollen, protzig eingerichteten Wohnungen an der Grande Rue de Pera, in denen griechische Millionäre und syrische Kriegsgewinnler unablässig Gesellschaften geben. Oder zu den Höfen und Durchgängen, in denen die Russen schlafen, zusammengekauert wie Schafe im Schneesturm. Eines Tages könnte man irgendwo vielleicht den Kern finden, den Schlüssel, um diese komplizierte Arabeske lesen zu können, die gedankenlos auf einen Grund von schierem Schmerz hingeschrieben wurde.
An diesem Nachmittag kann ich nur dasitzen und opalweißen Ouzo mit Wasser trinken, ermattet von dem eigentümlich schönen monotonen Klagen des türkischen Orchesters. Vom Schwarzen Meer her ist ein kühler Nordwind aufgekommen, der Staub und Papierschnipsel über den Taksim-Platz wirbelt.
Vorbei an den wartenden Droschken, die er ebenso ignoriert wie die roten Trambahnen und die siegreichen Wickelgamaschen der griechischen Offiziere, den Kopf mit der bestickten Kappe gegen den Wind geneigt, die mandelförmigen Augen wegen des Staubs zu schwarzen Schlitzen verengt, mit kleinen Schritten in schwarzen bestickten Pantoffeln, in einem fließenden roten Seidengewand, dessen Ärmel im Wind flattern, geht ein Mandarin aus China.
Cathay!
7. Konstantin und die Klassiker
Der kleine Monsieur Moscoupoulos warf die Patschhände in die Luft.
«Aber die Türken haben nicht die griechischen Klassiker studiert. Sie sind ungebildet. Nicht einmal die Abgeordneten wissen etwas von Aristophanes oder Homer oder Demosthenes. Et sans connaître les classiques grecs on ne peut être ni politicien, ni orateur, ni diplomate. Die Türkei gibt es nicht. Ich versichere Ihnen, Monsieur, es ist eine einzige Räuberbande. Und diese Stadt», wir sahen aus dem Fenster des Pera Palace auf ein vorbeifahrendes Automobil der Alliierten, «Sie kennen ja die Legende. Ein Konstantin hat sie gebaut, ein Konstantin hat sie verloren, ein Konstantin wird sie wiedererlangen ...»
In dem dichtem Dach aus Weinblättern und ineinanderverflochtenen Stämmen hängen grüne Reben. Ein Café vor einem der Tore in der großen Theodosianischen Mauer. Die Landstraße senkt sich hinunter zu einem niedrigen Durchlass, der viel zu klein scheint für die schweren staubaufwirbelnden Fuhrwerke, die dort hindurchrattern. Rechts und links graue eckige Türme, oben abgebröckelt. In beiden Richtungen eine endlose graue Mauer, gelegentlich gesprenkelt mit dem Grün eines Feigenbaums und grauen eckigen Türmen. Im Osten ein Stückchen des aquamarinblau leuchtenden Marmara-Meers, im Westen kahle erdbraune Hügel. Im purpurnen Schatten der Weinlaube blanke Holztische und Stühle, auf jedem Tisch ein Topf mit Rosmarin oder Basilikum oder Thymian oder eine blühende Geranie. In einer Ecke diskutiert eine Gruppe alter Männer mit würdevollen Gesten und ruhigen, klangvollen Stimmen über irgendetwas. Ihre weißen Turbane bewegen sich kaum. Hin und wieder blitzt es weiß auf, wenn ein nickender Kopf einen Sonnenstrahl trifft, eine schmale und braune Hand wird an den grauen Bart gehoben. Drei junge Männer neben mir mit neuem leuchtend roten Fes erzählen Witze. Ein alter Herr mit aufgedunsenem roten Gesicht, in Gehrock mit der üblichen weißen Weste, hört zu, schaut mit blitzenden Augen über seine Nargilé, wirft hin und wieder den Kopf zurück und lacht laut. Ein gelber schlanker Mann mit grünen Hauspantoffeln neben ihm starrt mit großen gelbbraunen Augen ins Leere, in der Hand eine lange bernsteinfarbene Zigarettenspitze, die golden leuchtet, wenn die Sonne darauf fällt.
Sans connaître les classiques on ne peut être ni diplomate, ni politicien, ni orateur ... Aber man kann im Schatten sitzen, wo die Weinblätter im kühlen Wind rascheln, man kann die Tage durch die Finger gleiten lassen, glatt und wohlgeformt wie die Bernsteinperlen der Gebetsketten, mit denen die eine oder andere Hand fortwährend spielt.
Aus dem Tor kommt ein Stabsfahrzeug mit alliierten Offizieren, funkelnde Goldlitzen, schwirrende Stimmen. Knatternd und schnaufend müht es sich im ersten Gang die holprige Straße hinauf und verschwindet in einer Staubwolke.
Eine blökende Schafherde taucht aus dem Staub auf, gefolgt von zwei Schäfern, die rufen und Steine werfen und mit ihren Stöcken schlagen, bis die Schafe durch das schmale Tor drängen wie Wasser durch die Öffnung in einem Trog.
Sans connaître les classiques ... Ein Trupp interalliierter Polizisten ist erschienen, die prüfende Blicke über die Gesichter der Türken werfen. Zwei italienische Gendarmen mit glänzendem Dreispitz und Knöpfen auf den Rockschößen, stiernackige britische Militärpolizisten, französische Flics mit dem bei Pariser Karikaturisten so beliebten Schnurrbart. Alle sind rotgesichtig und verschwitzt, auf den gewienerten Stiefeln liegt Staub. Nachdem sie die Leute im Café lange genug gemustert haben, machen sie kehrt und fahren durch das Tor in Richtung Stadt. Unter den Weinranken hat sie niemand bemerkt. Die alten Männer sprechen weiter und streichen sich mit langsamer Bewegung den Bart. In den Schalen ihrer Nargilés ist gelegentlich ein leises rotes Glühen, wenn der Raucher tief einzieht. Über den grauen Türmen und der Mauer kreisen Milane mit schwarzen geschwungenen Flügeln und Hakenschnabel am porzellanblauen Himmel.
8. Alexander
Unterwegs nach Therapia[8] wurde uns die Stelle gezeigt, wo zwei Tage zuvor ein französischer Lastwagen mit einer Regimentskapelle in die Schlucht gestürzt war. «Ah, monsieur, nous avons vécu des journées atroces», sagte die hochgewachsene Griechin neben mir und rollte gefährlich mit den schwarzen Augen. In der nächsten Kurve machte unser Wagen eine furchtbare Schlingerbewegung, um einem alten Mann mit Maultier auszuweichen. «Vier von ihnen waren auf der Stelle tot. Sie sollen ohnehin sternhagelvoll gewesen sein. Der Lastwagen und die Leichen wurden nicht gefunden ... le Bosphore, vous comprenez.» Sie lächelte affektiert mit ihren großen Lippen, deren Rot sich auf den sorgfältig geschminkten Amorbogen beschränkte.