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In Therapia saßen wir auf der Terrasse, vor uns der grüne bewegte Bosporus, und sahen Engländern in weißem Flanell beim Tennis zu. Ein heißer stickiger Nachmittag. Heuschrecken schwirrten wie verrückt in den staubigen Zypressen. Männer im Gehrock saßen flüsternd an kleinen Tischen. Monsieur Deinos, der eine Schiffsverbindung von Konstantinopel nach New York einrichten will, saß im lavendelgrauen Leinenanzug zwischen den beiden hochgewachsenen Damen mit unruhigen Augen und affektiert gespitztem Mündchen ... «Griechenland», hob er an, «wird seinen historischen Auftrag erfüllen ...»

Ich schlenderte zur Bar. Ein britischer Major mit Vollmondgesicht mixte Alexanders. Ein Mann im Gehrock versuchte, mit dem Mund Oliven aufzufangen, die ein Mitarbeiter einer amerikanischen Hilfsorganisation in die Luft warf. Alle sprachen Englisch, näselndes Oxford-Englisch, Chicagoerisch, Ostküstenamerikanisch, Englisch und Amerikanisch, wie es von Griechen, Armeniern, Franzosen, Italienern gesprochen wird. Nur die nüchterneren Leute in der Ecke sprachen Französisch.

«Der Geheimdienst hat schon wieder eine bolschewistische Verschwörung aufgedeckt ... jawoll. Haben alle Roten eingesammelt und sie in einem morschen Kahn auf dem Schwarzen Meer ausgesetzt.» – «Haben nichts Besseres verdient. Undankbares Pack, diese Russen ... Erst evakuieren wir sie aus Odessa und Sebastopol, und dann wollen sie hier Revolution machen. Anführer war eine Frau ... Haben sie in einem Zimmer im Tokatlian erwischt. Als die A.P.C. an der Tür klopfte, hat sie sich ausgezogen und ins Bett gelegt. Dachte, es sind Gentlemen, die nicht mit Gewalt einbrechen. Nun ja, sie haben ihr einfach eine Decke übergeworfen und sie mitgenommen, wie sie war.»

«Also, ich war der letzte weiße Mann, der aus Sebastopol rausgekommen ist ... Bin in der Landmaschinenbranche.»

«Gestern Nacht haben türkische Banditen sechs Griechen aus dem Dorf dort drüben entführt ...»

«Habt ihr von dem jungen Stafford gehört, der mit einer Rotkreuzschwester auf der Straße am See spazieren ging und von Banditen angehalten wurde? Das Mädchen haben sie nicht angerührt, aber ihn haben sie bis auf die Haut ausgezogen ... Auf Bitten des Mädchens haben sie ihm anstandshalber die Unterhose zurückgegeben.»

«Und der General sagte: ‹Es ist nicht hell genug, in jedem Fenster soll ein Leuchter stehen.› Alle haben darauf hingewiesen, dass die Spitzenvorhänge Feuer fangen können, aber der General hatte schon reichlich Schampus getrunken und rief dauernd nach seinen Leuchtern. Also haben sie ihm seine Leuchter gebracht, und die Vorhänge haben tatsächlich Feuer gefangen, und nun hat der Sultan einen Palast weniger ... War ein grandioser Anblick.»

«Was ich euch jetzt erzähle, ist äußerst vertraulich. Der Mann, um den es geht, sein Name beginnt mit einem Z ... Ihr kennt doch den Vickers-Mann ... Fragt mich irgendwann nach Vickers und den Straßen in Izmit. Offenbar ist er gar kein Jude, sondern Grieche aus Konstantinopel. In Pera kannte ihn jeder, hatte ein kleines Tuchgeschäft oder so. Eines Tages verschwand er mit dem Inhalt eines Tresors und taucht zwei Jahre später in Lyon als steinreicher Seidenhändler und Wohltäter der französischen Republik auf und solche Sachen.»

«Nein, der Bursche war Oberst in der Wrangel-Armee. Sie hatten nichts zu essen, und eines Tages stellte er fest, dass seine Frau und Tochter sich für Geld, na, ihr wisst schon, hat beide erschossen und die Fliege gemacht. Gestern Abend entdeckte irgendein kleiner Köhler seine Leiche in den Hügeln ...»

«Jawoll, ich war der letzte Weiße, der aus Sebastopol rauskam. Merkwürdige Dinge sieht man im Schwarzen Meer ... Bin in der Landmaschinenbranche. Als ich das letzte Mal in Batum war, habe ich mehr als sechshundert Frauen schwimmen sehen, nicht ein Fitzelchen Stoff am Leib, alle im Evaskostüm.»

«Na, Herr Major, noch einen Alexander? Das Zeug ist mild und tut wirklich gut.»

«Kemal[9]! Der ist erledigt ... Von wegen. Man erzählt sich ja die dollsten Dinge von ihm. Wie die türkische Armee bei Eskischehir in der Erde versank und hinter den griechischen Linien wieder zum Vorschein kam. Das ist das Zeug, mit dem man hier im Orient ein Held wird.»

«Angeblich rücken drei Divisionen der Roten durch Armenien vor, und er soll ihnen für ihre Hilfe Konstantinopel versprochen hat.»

«Sollen sie’s doch versuchen.»

«Irgendwann werden sie die Stadt schon kriegen.»

«Unsinn, die Griechen werden sie erobern.» – «Die Briten.» – «Die Franzosen.» – «Die Bulgaren ...» – «Der Völkerbund.» – «Die Türken.» – «Mein Vorschlag ist, die Stadt wird neutralisiert und der Schweiz übergeben. Das ist die einzige Lösung.»

Draußen auf der Terrasse aßen Monsieur Deinos und die beiden hochgewachsenen Griechinnen mit Amorbogenmündchen Pistazien und tranken Ouzo im amethystfarbenen Dämmerlicht. «Griechenland», fuhr Monsieur Deinos fort, «war schon immer das Bollwerk der Zivilisation gegen die Barbaren. Inspiriert von Marathon und Salamis und, wie ich hoffe, mit Hilfe und Wohlwollen der Amerikaner wird Griechenland wieder seine historische Mission erfüllen ...»

III

TRAPEZUNT

1. Nachmittagsschläfchen

Zwischen Inebolu und Samsun. Liege auf dem leeren Bootsdeck des italienischen Dampfers Aventino, einem klapprigen, vormals österreichischen Schiff, auf dieser Fahrt leer bis auf ein paar hundert russische Soldaten, repatriierte Gefangene, die im vorderen Laderaum zusammengepfercht sind. Ich liege auf dem Bauch. Die Nachmittagssonne sticht durch das Hemd auf meinen Rücken, den ich mir bei dem Badeausflug auf Prinkipo verbrannt habe. Zwischen Deck und Rettungsboot sehe ich schläfrig eine weite Wasserfläche, graugrün wie eine Taubenbrust, und dahinter die khakifarbenen Berge von Kleinasien, in enormen Falten ansteigend bis zu weißen Wolken, die in schiefergrauem Dunst dahintreiben. Der Wind fährt mir durchs Haar und flüstert mir ins Ohr. Das Deck unter mir zittert warm vom Stampfen der Maschinen. Es gibt keine Vergangenheit und keine Zukunft, nur den schläfrigen, unerklärlichen Sog der Bewegung über die rollenden Wellen in Richtung Sonnenaufgang. Kein Opium ist so süß wie der sorglose Schlaf auf einem Schiffsdeck an einem sonnigen Sommernachmittag, wenn man nicht weiß, wann man wo ankommen wird, wenn man Ost und West vergessen hat und seinen Namen und seine Adresse und wie viel Geld man in der Tasche hat.

Und dann, wieder wach, sehe ich den schimmernden blauen Himmel, denke an Stambul und die interalliierten Polizisten und die Wanzen im Pera Palace und die langen Schlangen von zerlumpten Leuten, die auf Visa warten, und die blauen Augen der Russen, himmelblau in müden, teigigen Gesichtern; Russen, die an jeder Ecke stehen und Zeitungen und Puppen, Zigaretten, Zuckergebäck, Postkarten, Papierblumen, Hampelmänner und Schmuck verkaufen; und die langnasigen Armenier, die in den Innenhöfen baufälliger Paläste auf Matten sitzen, und die Türken aus Mazedonien, die in Stambul ruhig unter Bäumen um die Moscheen sitzen, und die griechischen Flüchtlinge und die jüdischen Flüchtlinge und die verkohlten Straßen abgebrannter Basare; und eines Nachts der einbeinige Mann, der in seine knotigen Hände schluchzt.

Ich stand auf, benommen von Schlaf und Sonne. Möwen kreisten um das Schiff. Hier war die Luft frei von Elend und Flüchtlingen und Armeen und Polizisten und Passkontrolleuren. Die russischen Soldaten im vorderen Laderaum sahen fröhlich aus. Es war, als schaute man in eine Grube voller Bärenjungen. In ihrem beengten Quartier spielten sie und rangen miteinander, große, tolpatschige flachsblonde Männer in schmutzigen Kosakenhemden mit einem Gürtel um die Taille. Sie werfen sich mit massigen Pranken zu Boden, helfen einander auf und lachen, als seien sie unverwundbar, küssen sich und gehen dann wieder aufeinander los. Sie sind rastlos wie Kinder, die nach der Schule nicht hinausdürfen.

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9

Kemal Mustafa Kemal Atatürk, Gründer der modernen Türkei