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Und die armseligen Überbleibsel dessen, was weiterhin Zivilisation genannt wird, liegen in verstaubten Haufen in den Schaufenstern von Trödelläden. Brauchbares und Unbrauchbares, Qualitätvolles und Minderwertiges, und eines nach dem anderen verschwindet in Richtung Westen gegen Dollar und Lire und englische Pfund und türkische Pfund, gehortet in den Schränken, mit denen die Händler, Männer mit den Augen erschrockener Hunde auf dem Müll, die Wiederkehr ihres Herrn erwarten.

2. Der Ritter vom Pantherfell

Am Himmel ist ein helles Stückchen Mond. Ein aufgepumpter roter Sonnenball am Horizont eines Meers, das wie eine Taubenbrust grün und hellviolett schimmert. Palmwedel und breite Platanenblätter vor einem sich verdunkelnden Zenit. Auf dem staubigen Feld vor der Kaserne stehen georgische Soldaten lässig im Kreis. Sie tragen zerschlissene graue Uniformen, manche mit runden Pelzmützen, manche mit den spitzen Filzhelmen der Roten Armee. Viele sind barfuß. Sie verströmen einen Geruch von Schweiß und Hoffnungslosigkeit und Unterernährung. Ein auf dem Boden hockender Mann fängt an, auf einer kleinen Trommel, die er zwischen den Schenkeln hält, mit den Handflächen einen schnellen Rhythmus zu schlagen. Die anderen klatschen dazu, bis ein anderer eine leise Melodie anstimmt. Nach ein paar Strophen hält er inne, und ein junger blonder Bursche mit einer sauberen weißen Pelzmütze auf dem Hinterkopf beginnt zu tanzen. Die anderen klatschen weiter und singen Tra-la-la, tra-la-la in sentimentaler Begleitung. Der Tanz ist elegant, gockelhafte Schritte und rasche Jagdgesten, in denen etwas von der formvollendeten, ein wenig übertriebenen Romantik orientalischer Ritterlichkeit anklingt. Man kann sich silberne Schwerter und glitzernde Täschchen und prächtige Seidengürtel mit verzierten Schnallen vorstellen. Vielleicht ist es eine Erinnerung, die die Augen der rhythmisch klatschenden Männer glänzen lässt, eine Erinnerung an edle Pferde und ziselierte langläufige Gewehre und Trinksprüche zu endlosen Weingelagen und an andere erregende nächtliche Gesänge über die Heldentaten des Ritters vom Pantherfell[10].

3. Proletkult

An den Wänden einige schlichte Bilder in Schwarz und Weiß, ein Mann mit Hacke, ein Mann mit Schaufel, ein Mann mit Gewehr. Die Schatten sind so übertrieben, dass sie wie Lebkuchenmänner aussehen. Der Künstler hatte bestimmt noch nicht viele Figuren in seinem Leben gemalt. Das Theater ist ein langer Wellblechschuppen, früher ein Tingeltangel, die Zuschauer meist Arbeiter und Soldaten in weißen Hemden mit geöffnetem Kragen, die Frauen in weißen Musselinkleidern. Die Kinder, aber auch viele Männer, sind barfuß, und kaum eine Frau trägt Strümpfe. Sobald der Vorhang hochgeht, verstummen alle. Niemand will ein Wort von dem Bühnengeschehen verpassen. Es ist ein albernes Stück, eine rührselige Schnulze über ein blindes Mädchen und einen guten Bruder und einen bösen Bruder und einen üblen Grafen und eine dauernd in Ohnmacht fallende Gräfin, aber die jungen Schauspieler – keiner von ihnen hat vor dem Einmarsch der Roten Armee in Batum vor drei Monaten jemals auf der Bühne gestanden – spielen so überzeugend, dass einen die lautstarken Reaktionen des Publikums während der entscheidenden Momente des Messerkampfs zwischen dem schwachen guten Bruder und dem bösen und energischen älteren Bruder, der sich das blinde Mädchen gegen ihren Willen geschnappt hat, nicht unbeteiligt lassen. Und als schließlich alles Unrecht wiedergutgemacht ist und der Vorhang zum Happy End fällt, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass diese Leute, die hinausströmen in den ärmlichen Biergarten vor dem Theater, irgendwie entschädigt wurden für die Trostlosigkeit ihrer Wohnstube oder Kaserne, in die sie heimkehren werden. In der Energie und Entschlossenheit, mit der die beiden Protagonisten kämpften, war vielleicht ein Atom einer Ungezügeltheit, eines furchterregenden Rituals, das in den Hoffnungen und im Leben der Leute die ruinierte Dynastie der Dinge ersetzen könnte.

4. Bienen

Der Sekretär des Kommissariats für Volksbildung, das seit kurzem in Batum existiert, war ein schwarzhaariger Mann, Hakennase, hohläugig, Dreitagebart. Die Augen waren vor Hunger und Überarbeitung gerötet und hatten einen eigentümlich intensiven Ausdruck. Vor ihm lag ein Stapel Papiere, auf denen er gelegentlich etwas rasch notierte, als hätte er keine Zeit. Er sprach mühsam Französisch, grub jedes einzelne Wort aus längst vergessenen Erinnerungsschichten. Er sprach über das neue Bildungssystem, das die Bolschewiken in der neuen Republik Adscharien einführen wollen, deren Hauptstadt Batum ist. Er erklärte, dass bereits in mehreren Dörfern Sommerlager für Kinder begonnen hätten, dass alle erforderlichen Vorbereitungen unternommen würden, damit Ende September die Grund- und Oberschulen den Unterrichtsbetrieb aufnehmen können.

«Der Unterricht muss immer einen konkreten Bezug haben.» Er breitete die Hände aus, kantige, schwielige, schmerzende Hände, und schloss sie wieder mit einer Geste, als wollte er eine unsichere Realität festhalten. Auch die Wörter, die er verwendete, waren konkret, aus dem Boden gegraben. «Arbeit, von Anfang an ... Im Sommer auf den Feldern, die Kinder müssen im Garten arbeiten, Kaninchen, Bienen, Hühner züchten, lernen, wie man Rinder versorgt. Sie müssen in die Wälder gehen und alles über Bäume lernen. Alles sollen sie durch konkrete Anschauung lernen. Und im Winter werden sie ihre jeweilige Muttersprache lernen sowie Esperanto ... Es wird hier Schulen für Armenier, Griechen, Muslime, Georgier, Russen geben ... und Grundkenntnisse in Gesellschaftswissenschaften, Mathematik, Handarbeit, Kochen. In unserer Republik soll sich jedermann selbst versorgen können. Das wird der Grundschulunterricht sein. Sie sehen also, keine Theorie, alles Praxis. Die Sekundarstufe wird spezialisierter sein, Vorbereitung auf den Beruf. Und wer die Oberschule absolviert hat, kann auf die Universität gehen, um dort die Dinge zu studieren, für er sich entschieden hat. Sie sehen also, wer es zu etwas bringen will, muss sich in der Arbeit beweisen, nicht in Theorien oder Prüfungen. Aber auch in Musik und Sport und Schauspiel wird es Unterricht geben. Die Künste müssen offen sein für jeden, der auf diesem Gebiet tätig sein will. Doch am wichtigsten ist die Natur. Die Schüler müssen stets draußen sein auf den Feldern und in den Wäldern, in den Gärten, wo Bienen sind ... Unsere ganze Hoffnung sind die Kinder ... in den Gärten, wo Bienen sind.»

5. Der Wanzenexpress

«Das gibt’s doch nicht», hatte der baumlange Schwede gesagt, als er und ich und ein besonders übel aussehender Levantiner mit Zwirbelbart in Batum nicht an Land gelassen wurden. «Das gibt’s doch nicht», hatte er gesagt und auf den verwahrlosten Hafen gezeigt und auf die langen Dächer der grauen und schwarzen Stadt, inmitten dichter grüner Bäume, und auf die blauen und purpurroten Berge in der Ferne und die Rotgardisten, die am Kai herumlungerten, und auf das Hafenamt mit dem aufgemalten Hammer und Sichel der Sowjetrepublik. Zuletzt sah ich ihn an der Gangway, der Stehkragen schnitt ihm in das fleischige Kinn, er schüttelte den Kopf und murmelte immer wieder: «Das gibt’s doch nicht.»

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10

Der Ritter vom Pantherfell Georgisches Nationalepos, verfasst von Schota Rustaweli (12./13. Jh.)