Der Mond ging auf, und wir kamen schneller voran, wenn auch der Nebel immer noch über dem Fluß hing. Die Stunden verrannen in drückendem Schweigen; nur das rhythmische Klatschen der Ruder klang wie das monotone, bedeutungsvolle Ticken einer großen Uhr. Nicht Menschen schienen sich durch den nebligen Dunst vorwärts zu schieben, sondern dämonische Wesen, Gespenster des Urwalds. Die verbissene Wut in unseren Herzen war so groß, daß wir weder Anstrengung noch Ermüdung empfanden.
Als der Nebel gegen Morgen zu weichen begann und ein fahler Schein den baldigen Anbruch des Tags verkündete, passierten wir die Hütte eines Fischers. Nun war es nicht mehr weit bis Kaiiwa. Das Dorf lag zwei Meilen flußabwärts, hinter einer Krümmung verborgen, an der Stelle, wo sich der Guapo wieder mit dem Orinoko vereinigte. Der Sitz Oronapis war auf einer Insel errichtet worden, die vom Hauptarm, vom Guapo und dessen Verästelungen umschlossen wurde.
Der Fischer stand am Ufer und bereitete sein Boot zur Ausfahrt vor. Auf unsere Frage erklärte er, daß sich in der Siedlung nichts ereignet habe. Er zeigte sich verwundert über unsere Unruhe. „Dem Himmel sei Dank’, seufzte Pedro erleichtert. „Wir sind zur rechten Zeit gekommen.”
Auf der Insel der blutigen Ernte
Als wir einige Minuten später die Krümmung des Flusses erreichten, stockte uns vor Schreck der Atem. Durch die Entfernung gedämpft, hallten wilde Schreie von der Siedlung herüber, und am Horizont zuckte Feuerschein auf: dort stand das dürre Flechtwerk einer Hütte in Flammen. Der ersten Feuersäule folgten weitere, und bald war der ganze Himmel hinter dem Nebelschleier von rötlichem Schein überzogen, dem düsteren Wahrzeichen einer Katastrophe.
Wir hielten die Boote dicht nebeneinander und ruderten aus Leibeskräften. Der schreckliche Anblick, der sich unseren Augen am Ende der Biegung bot, zwang uns, im Schatten des Ufers anzuhalten. Der Nebel wich, und im lodernden Feuerschein waren alle Einzelheiten gut wahrzunehmen.
Auf der ungefähr dreihundert Schritt entfernten Insel stand eine lange Reihe von Hütten in Flammen. Im Licht des grausigen Brandes spielten sich entsetzliche Szenen ab. In dem uns zugekehrten Teil Kaiiwas war der bewaffnete Widerstand der War-raulen, falls sie sich überhaupt zur Wehr gesetzt hatten, offensichtlich zusammengebrochen, und nun wurden die Menschen mit Gewalt aus den von der Feuersbrust noch nicht erfaßten Hütten geschleppt. Viele Einwohner suchten ihre Rettung in kopfloser Flucht, die Angreifer aber setzten ihnen nach und streckten sie mit Keulenschlägen zu Boden. Es war ein höllisches Toben grausamer Gewalt, verzweifelter Schreie und verbissenen Sträubens. Die Akawois wollten lebendige Gefangene haben; doch ging das Getümmel nicht ohne Blutvergießen ab, hier und dort lagen bereits Tote auf der Erde.
In dem wilden Durcheinander war schwer zu erkennen, wo die Hauptkräfte des Feindes standen und wie diese am besten anzugreifen waren. Also zogen wir uns an herabhängenden Asten hoch und kletterten ans Ufer. Dort erstiegen die Führer der Boote sowie Fujudi, Pedro und ich die umliegenden Bäume, von wo aus sich ganz Kaiiwa übersehen ließ.
Mit einem Blick erfaßte ich die allgemeine Lage. Die Akawois hatten die Insel zwischen zwei Feuer genommen. Die Hälfte war am Ufer des Hauptstromes gelandet, während die übrigen Krieger in den Guapo eingebogen waren und von der Urwaldseite her an-gegriffen hatten. An den Landesteilen lagen die Itauben der Akawois sowie alle Boote der Warraulen, deren sich der Feind rechtzeitig bemächtigt hatte, um den Überfallenen die Flucht unmöglich zu machen.
Je vier oder fünf Krieger hielten sich an den beiden Landeplätzen auf. Ihre Hauptaufgabe war nicht die Bewachung der Boote, sondern das Fesseln der Gefangenen, die von den Akawois in großer Eile aus dem Dorf herbeigetrieben wurden. Aber das war noch nicht alles. Vom entfernteren Ende der Insel, das noch im Dunkeln lag und durch vorüberziehende Nebelschwaden verhüllt wurde, drangen Geräusche herüber, die annehmen ließen, daß dort der Kampf noch immer tobte. An dieser Stelle mußte eine Gruppe von Warraulen besonders hartnäckigen Widerstand leisten.
Daraus ergab sich ein einfacher und klarer Plan für unser Handeln. Wir mußten beide Landeplätze in unsere Hand bringen und gleichzeitig den kämpfenden Warraulen zu Hilfe eilen. Da es die Akawois mit allem, was sie taten, sehr eilig hatten, kletterten auch wir schnell von unserem Ausguck herunter und sprangen in die Boote. Während der Fahrt traf ich alle notwendigen Anordnungen. Die Warraulen und das Boot Waguras sollten die Aka-wois auf dem näher gelegenen Landeplatz am Guapo überrumpeln. Jaki und Konauro bekamen den Befehl, mit ihren Leuten die Landesteile am Orinoko anzugreifen. Arnak hatte die restlichen vier Jabotas so schnell wie möglich an das untere Ende Kaiiwas zu führen. Alle sollten nach der Landung auf die Mitte des Dorfes vorrücken. Ich selbst würde zwischen den beiden Liegeplätzen an Land gehen, um die Flanken im Auge zu behalten.
„Jagt den Puma! Tötet den Puma!” begannen einige Hitzköpfe zu rufen.
„Ruhe!” herrschte ich sie an. „Seid ihr verrückt geworden? Wir müssen sie überraschen!”
Zum Glück waren die Akawois zu weit entfernt, um unsere Stimmen vernehmen zu können.
Unsere kleine Flottille stob auseinander. Die einen wandten sich nach rechts, die anderen nach links, und meine Itauba blieb allein. Da wir den kürzesten Weg zurückzulegen hatten, ruderten wir langsam. Ringsumher wurde es ungewöhnlich still, und die plötzliche Einsamkeit ließ ein eigenartiges Gefühl in uns aufkommen. Der Plan, Kaiiwa von vier Seiten zugleich anzugreifen, entsprach der augenblicklichen Lage bestimmt am besten, denn der Feind hatte sich über die ganze Insel verteilt. Auf diese Weise würden wir ihm jede Möglichkeit zur Flucht nehmen. Sollte es den Akawois allerdings gelingen, auch nur die Hälfte ihrer Kräfte an einer Stelle zu vereinigen und gegen eine unserer Abteilungen zu werfen, bevor diese Hilfe erhalten konnte, so wäre das äußerst gefährlich.
Fest entschlossen, dies unter keinen Umständen zuzulassen, steuerte ich das Boot dem Ufer Kaiiwas zu. Vor uns lag eine kleine Bucht, die sich etwa fünfzig Schritt in das Land hineingefressen hatte. Eine sechs Fuß hohe Bodenwelle ließ uns unbemerkt landen. Als wir aus der Itauba stiegen, krachten plötzlich rechter Hand, wohin ich Wagura und Kuranaj geschickt hatte, mehrere Schüsse. Ich überließ das Boot der Obhut Arasybos und zweier Frauen und eilte mit den übrigen Kämpfern die Böschung hinauf, wo uns einige kleine Sträucher leidlichen Schutz boten. Auf der ganzen Insel waren nur vereinzelte Bäume des ehemaligen Urwalds zurückgeblieben.
In dem Halbdunkel am Ufer hatte niemand unsere Landung wahrgenommen. Auf der rechten Seite, wo die Schüsse gefallen waren, entspann sich ein Gefecht. Die Leute Waguras und Kuranajs waren ungefähr zweihundert Schritt von uns entfernt. Sie schwärmten aus und machten Jagd auf die akawoischen Wachen, die beim ersten Zusammenstoß nicht ihr Leben gelassen hatten. Einige andere Akawois, die sich in der Nähe befanden, eilten den Wächtern zu Hilfe, doch entkamen nur zwei oder drei den wohlgezielten Musketenschüssen unserer Männer. Sie flohen Hals über Kopf in die Tiefe der Insel. Dort hatten die Akawois bereits die Gefahr erkannt; sie ließen die Warraulen laufen, schrien sich etwas zu und rotteten sich zusammen.
Während die Gruppe Waguras stehenblieb, um die Büchsen neu zu laden, und Kuranaj`s Leute ihren Stammesbrüdern, die neben den Booten lagen, die Fesseln durchschnitten, setzten sich die Akawois auf der linken Seite, wo Jaki und Konauro an Land gehen wollten, energischer zur Wehr. Offensichtlich hatten sie die beiden verdächtigen Boote schon auf dem Fluß entdeckt. Den Schüssen nach zu urteilen, war es den Unseren gelungen, das Ufer zu erreichen und die Wächter von den Booten zu vertreiben. Wie ich später erfuhr, waren unvermutet fünfzehn Akawois aufgetaucht, die eine große Schar gefangener Warraulen, Männer, Frauen und sogar Kinder, mit brutalen Stockhieben vor sich hertrieben.