Er verstummte und freute sich wie ein Kind über den Eindruck, den er hervorgerufen hatte.
„Wenn du Rat weißt, Zauberer, dann halte damit nicht zurück!” rief Kokuj.
„Ich werde euch raten”, antwortete Arasybo. „Wo sollen die Menschen Zuflucht suchen, wenn sie nicht wissen, was sie tun sollen? Bei den unsichtbaren Mächten! Sie sind es, die am besten über Leben und Tod entscheiden.”
In mir regten sich sofort Vorbehalte gegen Arasybos Trick mit den Geistern; doch die Indianer waren anderer Meinung, sie nahmen die Worte des Zauberers äußerst beifällig auf.
„Sprich deutlicher”, forderte ich Arasybo auf, ohne meinen Unwillen zu verbergen. „Hast du etwas Bestimmtes im Sinn?’ „Ja, Weißer Jaguar, etwas ganz Bestimmtes! Das Wasser wird uns die Antwort geben, welcher Gefangene es verdient, am Leben zu bleiben, und welcher umkommen muß. Das Wasser ist ein gerechter Richter.”
Dann erklärte er seinen Vorschlag näher. Die Warraulen hatten ihm erzählt, daß sich der Guapo unterhalb Kaiiwas auf eine Breite von nicht einmal hundert Schritt verenge und daß es an dieser Stelle von räuberischen Fischen, den Humas, nur so wimmle. Wenn die Gefangenen diese Flußenge durchqueren müßten, so würden die geheimen Mächte ihr Urteil fällen, zum Nutzen oder zum Untergang der Schwimmer. Sie, nicht die Menschen, würden richten, und das Urteil würde gerecht sein.
„Euer Zauberer ist klug, er weiß trefflichen Rat!” rief Oronapi erregt. Auch die übrigen billigten das Vorhaben Arasybos.
Der allgemeinen Begeisterung konnte ich mich nicht länger widersetzen — schließlich mußte ein solches Gottesgericht nicht unbedingt mit dem Tode der Gefangenen enden.
„Und wenn sie das andere Ufer erreichen, dann sind sie frei und können gehen, wohin sie wollen?” wollte ich noch wissen.
„Dann sind sie völlig frei”, antwortete Arasybo, und Oronapi wiederholte diese Versicherung.
Wir beschlossen, die Gefangenen sofort an die enge Stelle des Guapo zu bringen, doch tauchte eine neue Schwierigkeit auf: Fünf der Akawois hatten. so schwere Wunden, daß sie keiner Anstrengungen fähig waren. Unmöglich waren sie in der Lage, um ihr Leben zu schwimmen. Ich erreichte bei den Warraulen, daß diese fünf jetzt verschont wurden und erst nach einem Monat, sobald sie zu Kräften gekommen waren, der Probe unterzogen werden sollten.
Die Stelle, an der die Gefangenen den Fluß durchschwimmen sollten, war tatsächlich nicht breiter als achtzig Schritt. Das langsam dahinfließende Wasser sah friedlich und unschuldig aus. Nie wäre ich auf den Gedanken gekommen, daß unter seiner ruhigen Oberfläche die blutgierigen Humas lauerten. Ich war ihnen erst einmal begegnet, und zwar an dem Tage, da wir im Potarosee die Apias jagten. Jedesmal wenn ich daran dachte, schüttelte es mich vor Ekel. Vielleicht waren die mörderischen Bestien gerade nicht in der Nähe, denn Fische wandern doch von einer Stelle zur andern!
Mehrere Warraulen setzten auf das andere Ufer über, um von der Zielseite her das Schauspiel zu verfolgen.
Als Herrscher über das umliegende Gebiet übernahm Oronapi die Aufsicht über die Vollstreckung des Urteils und bestimmte, daß Dabaro zuerst den Fluß durchschwimmen solle. Als den Akawois bekanntgegeben wurde, was ihnen bevorstehe, veränderten sie kaum ihren Ausdruck, ihre Gesichter blieben nach wie vor stolz und verschlossen. Diese Krieger sahen dem Tod kaltblütig ins Auge, in ihrer Selbstbeherrschung ähnelten sie sehr den Indianern Nordamerikas. Als gewähre er eine Gnade, öffnete Dabaro ein wenig den Mund und fragte: „Wenn wir das andere Ufer erreichen, dann geschieht uns nichts weiter?”
„Nein”, antwortete der Oberhäuptling, „dann könnt ihr an den Cuyuni zurückkehren.”
Dabaro verzog die Lippen zu einem ironischen Lächeln und knurrte: „Aber wie? Wir besitzen kein Boot!”
Oronapi, der überzeugt war, daß alle Gefangenen durch die Humas zugrunde gehen würden, lächelte wohlwollend über die Umsicht dieses Verurteilten und versprach bereitwillig: „Sei unbesorgt, wir geben euch eine Itauba.”
Dabaro, dem einige Minuten vorher die Fesseln abgenommen worden waren, stieg daraufhin vorsichtig in den Guapo. Er ging langsam, um das Wasser nicht aufzuwühlen, und schwamm ganz ruhig, ohne die Glieder viel zu bewegen. So schob er sich allmählich vorwärts und hoffte, der Aufmerksamkeit der Humas zu entgehen, wenn sie sich in der Nähe aufhalten sollten.
Er schien tatsächlich richtig zu handeln, denn er schwamm immer weiter, ohne angefallen zu werden. Wir verfolgten jede seiner Bewegungen mit wachsender Spannung. Die meisten wünschten seinen Tod und wurden ungeduldig, als er unangefochten die Hälfte der Strecke zurückgelegt hatte. Ein hitzköpfiger Warraule — die Akawois hatten seine Frau und seinen Bruder erschlagen — schleuderte Dabaro einen größeren Ast nach, der in der Nähe des Schwimmenden ins Wasser fiel und durch das plätschernde Geräusch die Humas anlocken sollte. Zornig schrie ich ihn an, daß man die verborgenen Mächte nicht durch betrügerische Listen hintergehen dürfe. Oronapi und Arasybo stimmten mir zu.
Immer noch schwamm der Indianer unangefochten dahin. Noch dreißig Schritt fehlten ihm bis zum Ziel, jetzt waren es nur noch zwanzig. Drei Viertel der Strecke, die Leben und Freiheit bedeutete, lag bereits hinter ihm. Mehrere hundert Augen hingen gebannt an jeder seiner Bewegungen. In einigen Indianern war der Wunsch, er möge untergehen, so stark, daß sie unwillkürlich die geballte Faust hoben und ihm mit wutverzerrten Gesichtern drohten.
Das rettende Ufer kam immer näher. Dabaros Bewegungen wurden hastiger, mit kräftigen Stößen versuchte er das Land schneller zu erreichen. Plötzlich, als habe ihm jemand einen Schlag versetzt, tauchte er mit einem verzweifelten Schwung weit aus dem Wasser empor und entschwand gleich darauf unseren Augen. Als er wieder auftauchte, schlug er wie rasend um sich.
„Sie haben ihn!” Ein vielstimmiger Freudenschrei hallte über das Wasser. „Sie haben ihn! Es geht mit ihm zu Ende!”
Es gab keinen Zweifel, die Humas hatten zugepackt, aber es waren nur noch wenige Schritte bis zum Ufer. Der sich wie wahnsinnig gebärdende Dabaro legte sie zurück und zog seinen Körper mit letzter Kraft aus dem Wasser. Wir sahen von weitem, daß einige der gefräßigen Fische hoch aus dem Wasser sprangen, um ihn zu erreichen, doch er befand sich bereits in Sicherheit. Drei Schritt vom Ufer entfernt lag er auf dem Sand und blutete aus vielen Wunden an Bauch, Brust und Beinen.
„Er hat es geschafft!” stellte Arnak ruhig fest. „Er wird leben.”
Der nächste Akawoi zögerte, denn er sah, was sich im Wasser abgespielt hatte, und verlor den Mut. Er wurde mit Gewalt in den Fluß gestoßen. Hastig schwamm er vorwärts und peitschte mit den Armen die Oberfläche des Wassers. Noch hatte er nicht die Hälfte der Enge erreicht, als die Bestien über ihn herfielen. Er warf sich verzweifelt nach allen Seiten, doch nach etwa zwanzig Stößen, die immer schwächer wurden, verschwand er in der Tiefe und kam nicht wieder zum Vorschein. Diesmal war es kein Freuden-schrei, sondern ein lang anhaltendes, sich steigerndes Murmeln, das die Genugtuung der Menge zum Ausdruck brachte. „Der nächste!” rief Oronapi.
Immer mehr und mehr der blutdürstigen kleinen Fische kamen herbei, an einigen Stellen drängten sie sich dicht unter der Oberfläche des Wassers und verursachten Wirbel, manche sprangen über das Wasser empor und zeigten einen Augenblick ihre glitzernden Schuppen. Diese Fische bewiesen eine wahrhaft teuflische Gefräßigkeit. So war es kein Wunder, daß der nächste, der dritte, und gleich darauf der vierte und auch der fünfte Akawoi nach kurzem Kampf im Wasser versanken. Darauf schickte Oronapi drei auf einmal in den Fluß. Die beiden vorderen fielen bald den Humas zum Opfer, die sich in Scharen auf sie warfen, während der dritte Indianer, der etwas abseits und weiter hinten schwamm, anfangs unbeachtet blieb, so daß es ihm gelang, wenn auch mit zahlreichen Bißwunden, glücklich das jenseitige Ufer zu erreichen.