Ich wollte dem Streit ein Ende machen und bat um Ruhe. „Nach meiner Meinung’, erklärte ich, „nach der Meinung eines Menschen, der einen großen Teil der Welt gesehen hat und euch
von ganzem Herzen alles Gute wünscht, gibt es keinen Zweifel, daß Pfeil und Bogen im dichten Urwald eine hervorragende Waffe sind. Die Gründe, die Manauri und Arnak anführen, sind aber noch gewichtiger: Wer nicht die Freiheit oder gar das Leben verlieren will, muß mit mehreren Waffen umgehen können, vor allem mit Feuerwaffen. Es ist eine alte Wahrheit auf dieser Welt, daß der die Oberhand behält, der die bessere Waffe besitzt.”
Trotz aller Überzeugungsversuche beharrten viele auf ihrer Meinung und lehnten es ab, sich mit dem Gebrauch von Feuerwaffen vertraut zu machen. Wieder einmal stand ich vor einem auffallenden Charakterzug der Indianer, den ich bereits in den virginischen Wäldern Nordamerikas kennengelernt hatte. Sie waren nicht imstande, künftige Ereignisse in Erwägung zu ziehen, und legten der Zukunft gegenüber eine unglaubliche Sorglosigkeit an den Tag. Sie besaßen einfach nicht die Fähigkeit voraus-zuschauen, und das tat mir weh.
Außer Manauri hatten sich nur fünf Indianer bereit erklärt, sich an den Feuerwaffen unterweisen zu lassen. Sie alle waren vertraute Freunde des Häuptlings, mit Ausnahme des hinkenden Arasybo. Und der hatte sich wahrscheinlich erinnert, daß ich mich damals für ihn eingesetzt und dem Vorschlag, ihn allein am Geierberg zurückzulassen, widersprochen hatte, und wollte mir nun seine freundschaftliche Gesinnung beweisen. Die übrigen neun Indianer zeigten keine Lust — bis auf Lasana, die plötzlich vortrat und erklärte, daß sie an den Schießübungen teilnehmen wolle.
„Du? Du willst schießen lernen?” Ich machte große Augen. „Manauri hat mir erzählt, daß viele Indianerinnen ihre Männer auf Kriegszügen begleiten und genausogut mit den Waffen umgehen können wie jeder andere Krieger. In den Wäldern am Cu-yuni soll sogar ein Stamm leben, hörte ich, der nur aus Frauen besteht.”
„Der muß aussterben”, äußerte Wagura sachkundig. „Ohne Männer... ”
„Sieh an, welch ein Kenner!” Der Häuptling wiegte den Kopf und bedachte den Jüngling mit einem teils rügenden, teils anerkennenden Blick. „Nein, dieser Stamm muß nicht aussterben, denn die überaus kriegerischen Frauen fallen oft über die benachbarten Stämme her und nehmen solche klugen Jünglinge, wie du es bist, als Gefangene mit, die ihnen dienen müssen. Kommt später ein Mädchen zur Welt, schenken sie dem Gefangenen die Freiheit, wird aber ein Junge geboren, so ist der Säugling dem Tode verfallen, und der Gefangene muß weiter dienen.”
„Das ist schrecklich!” rief Wagura entrüstet aus, wobei seine Augen im Gegensatz zu diesen Worten einen geheimnisvollen, träumerischen Glanz annahmen.
Etwas abseits hielten indessen die fünf Neger eine Art Beratung ab. Sie hatten schon immer zu mir gehalten und waren jetzt, da sie gesehen hatten, mit welcher Entschlossenheit ich sie vor den Spaniern in Schutz nahm, bereit, für mich durchs Feuer zu gehen. Als sie merkten, daß mir die Indianer durch ihr Zögern Verdruß bereiteten, kamen sie auf mich zu, und Miguel erklärte: „Wir sehen ein, daß du recht hast, Jan. Wir alle wollen schießen lernen.”
So hatte ich vorläufig zwölf Schüler und begann sofort mit dem Unterricht nach dem Grundsatz: Schmiede das Eisen, solange es warm ist. Ich nahm die silberne Pistole — ein wundervolles Beutestück — zur Hand und erklärte, wie so eine Waffe geladen wird und wieviel Pulver und Blei man dazu nimmt.
Übrigens war ihnen das nicht völlig neu, denn während der letzten Tage unseres Aufenthalts auf der Insel hatten sie sich bereits ein wenig mit den Büchsen befaßt.
Nach dieser Einführung übernahmen Arnak und Wagura die Aufsicht bei den nun folgenden Übungen.
Der Wind blies stetig, und das Ruder bediente ein seekundiger Indianer. Als mein junger Gefangener sah, daß ich ohne Beschäftigung war, kam er auf mich zu und erklärte sich bereit, mit dem Spanischunterricht anzufangen. Er trug jetzt keine Fesseln mehr
und konnte sich frei bewegen, wie es ihm beliebte. Man merkte ihm an, daß er sich in der Gefangenschaft ständig wohler fühlte. Zunächst berührte er den Kopf und sagte: „la cabeza”, dann deutete er auf die Hand: „la mano”, nun war das Schiff an der Reihe: „el navio”. So begann mein Unterricht.
Pedro stellte sich durchaus geschickt an und verstand es, alles sehr anschaulich zu erklären, so daß ich mir nach einer Stunde eine größere Anzahl spanischer Wörter angeeignet hatte. Er war ein aufgeweckter Bursche. Als die andern ihre Übungen mit der Pistole beendet hatten, rief ich Arnak und Manauri herbei und hieß sie, Pedro zu fragen, ob er die Geographie Südamerikas gelernt habe. Ja, die habe er gelernt. Ob er schon einmal eine Karte dieser Länder gesehen habe? Auch die habe er gesehen. Ob er imstande sei, den Verlauf der Küste aufzuzeichnen, die wir entlangfuhren? Pedro war sich dessen nicht sicher, doch wollte er es versuchen.
Unter den Sachen, die uns die ehemaligen Herren des Schiffes hinterlassen hatten, befanden sich so wertvolle Gegenstände wie eine Rolle Schreibpapier, Tinte und Gänsekiele. Ich ließ diese Dinge herbeibringen und forderte Pedro auf, gut zu überlegen und dann den uns gegenüberliegenden Teil der südamerikanischen Küste aufzuzeichnen.
Der junge Spanier machte sich sogleich an die Arbeit. Zunächst zeichnete er mit einem Stückchen Blei ganz dünn die Konturen, verbesserte, was ihm nicht richtig erschien, und zog dann mit Tinte die Linien nach. Wie bezaubert folgten wir den Bewegungen seiner Finger; die Indianer hielten fast den Atem an. Außer dem Häuptling und Arnak hatten sich Wagura, Lasana und der Neger Miguel zu uns gesellt.
Die Linie, welche die Küste darstellte, lief ungefähr hundertzwanzig Meilen genau nach Osten, bildete dann eine große Bucht, von der aus sie nach Südosten abbog und diese Richtung bis zum Rand des Papiers beibehielt. Vor der Stelle, an der die Küste den gewaltigen Einschnitt zeigte, lag die große Insel Trinidad, so daß
dort eine Art Riesenlagune entstand, die sich im Norden und im Süden zur See hin öffnete. Golfo de Paria, schrieb Pedro in die Lagune hinein: Pariabucht.
„Und wo befindet sich die Mündung des Orinoko?” fragte ich neugierig.
„Meint ihr die Hauptmündung, Herr?” erwiderte der Spanier. „Ja, die Hauptmündung’, antwortete ich, obgleich ich bisher nicht gewußt hatte, daß auch noch andere existierten.
Es zeigte sich, daß die Hauptmündung etwa einhundertfünfzig Meilen südlich der Insel Trinidad lag und der Orinoko, aus dem Innern des Landes kommend, von Westen nach Osten strömte. Ungefähr einhundertfünfzig Meilen vor der Mündung ins Meer zweigten mehrere Arme nach Norden ab und ergossen sich entweder in die Pariabucht gegenüber der Insel Trinidad oder südlich davon ins offene Meer. Eine Vielzahl größerer und kleinerer Flüsse ließ unzählige Inseln entstehen. Pedro bezeichnete das ganze Gebiet als Delta des Orinoko.
Obgleich ich mich rühmte, auch einige Bildung genossen zu haben, ich hatte in der Jugend schreiben und lesen gelernt und schon so manches Buch verschlungen, mußte ich nun einsehen, daß mir meine Erziehung in den Wäldern Virginias nur eine sehr mangelhafte Vorstellung von der Welt vermittelt hatte. Hier saß Pedro und zauberte geheimnisvolle Linien von Flüssen, Inseln, Buchten und Küsten auf das Papier, und sie alle waren für mich etwas völlig Neues, das ich zum erstenmal sah. Ja, ich mußte erkennen, daß die Indianer mit dieser Materie vertrauter waren als ich, denn sie bestätigten mit beifälligem Gemurmel, daß die Zeichnungen Pedros über Erwarten genau und treffend ausgefallen waren.
„Nun zeichne die englischen Inseln im Karibischen Meer”, ließ ich dem Spanier übersetzen.
Pedro machte ein verlegenes Gesicht und erklärte, daß Jamaika weit im Nordwesten liege und das Papier dafür nicht aus-reiche.