„Ich meine Barbados, nicht Jamaika”, entgegnete ich.
„Die Insel Barbados liegt genau im Norden von Trinidad, aber auch ungefähr zweihundert Meilen vom Festland entfernt.” „Weißt du das genau?’
„Ja, Herr.”
Das war sehr weit, und ich dachte voller Unruhe daran, wie viele Schwierigkeiten ich wohl noch überwinden müßte, um endlich dorthin zu gelangen.
Die Indianer verlangten von Pedro, er solle ihnen den Pomerun aufzeichnen. Der Spanier erklärte, daß dieser Fluß nicht sehr groß sei. Daher habe er seinen Lauf nicht genau im Kopf, doch sei er der Meinung, der Pomerun erreiche das Meer zwischen der Mündung des Orinoko und der Mündung des Essequibo.
„Das stimmt!” rief Manauri aus.
Pedro zeichnete den Essequibo zweihundert Meilen südöstlich der Mündung des Orinoko ein, und die Indianer zollten ihm lebhaften Beifall. Sie sagten, der Pomerun fließe etwa fünfzig Meilen nördlich des Essequibo.
Gedankenversunken betrachtete ich die Karte, die mir einen Einblick in die Welt gewährte, in der ein noch unbekanntes Schicksal meiner harrte.
Nach einer Weile unterbrach Pedro das allgemeine Schweigen und fragte: „Soll ich noch etwas zeichnen?”
Alle überlegten, nur der kleine Wagura sagte mit Bestimmtheit: „Jawohl.”
Als Pedro ihn fragte, was er sich wünsche, wurde er ein wenig verlegen, ließ seinen Blick von einem zum andern schweifen, antwortete dann aber ohne Scheu: „Den Cuyuni.”
„Das ist der linke Zufluß des Essequibo”, erläuterte Pedro und zeichnete sofort den ungefähren Verlauf des Flusses in die Karte ein. „Er kommt von Westen her, genau wie der Orinoko, nur fließt er durch äußerst dichten, kaum bekannten Urwald. Man weiß nur, daß an seinem Unterlauf ein karibischer Stamm lebt, die kriegerischen Akawois.” „Richtig”, bestätigte Manauri.
„Und wo... wo lebt dieser andere Stamm... die Frauen?” forschte Wagura weiter.
„Das weiß ich nicht.”
Manauri, Arnak, Lasana und ich hatten uns schon eine ganze Weile heitere Blicke zugeworfen, jetzt konnten wir uns nicht mehr beherrschen und brachen in lautes Gelächter aus.
„Ihr verscheucht ja die Fische, ihr. . .!” tadelte uns der wißbegierige junge Mensch, zuckte die Achseln und ging weg. Der Ausbruch unserer Fröhlichkeit hatte ihn beleidigt, und er tat nun sehr verstimmt.
„Wo liegen die spanischen Stützpunkte?” fragte ich Pedro und beschrieb mit dem Finger einen Kreis um den Unterlauf des Orinoko.
„Ich weiß nicht, ob sie mir alle bekannt sind”, antwortete der Jüngling, „übrigens sind es nicht viele. Eine spanische Siedlung befindet sich auf Trinidad, ich glaube, auf der Seite der Pariabucht. Am Orinoko selbst ist mir nur Angostura bekannt, das ungefähr einhundertfünfzig bis zweihundert Meilen flußaufwärts liegt.”
„Mehr gibt es nicht?”
„Spanische kaum, dafür gibt es weiter im Süden holländische Pflanzungen. Die Holländer sind tiefer ins Land eingedrungen und haben ihre Faktoreien am Cuyuni gegründet. Damit sind sie den Engländern ins Gehege gekommen, deren Faktoreien sich an der Mündung des Essequibo befinden.”
„Pedro!” schrie ich und sprang auf. „Was hast du gesagt? Englische Faktoreien?”
„Ja, englische Faktoreien. Es ist so, Herr. So habe ich es gelernt. Aber. . .” Bestürzt hielt er inne, als er die plötzliche Veränderung in meinem Gesicht wahrnahm.
„Irrst du dich auch nicht, Pedro, mein Junge?’
„Ich irre mich nicht, Herr. Ich habe mehr als einmal davon gehört.”
„Englische Faktoreien an der Mündung des Essequibo?” wiederholte ich und wollte meinen Ohren nicht trauen.
„Jawohl, Herr, an der Mündung des Essequibo.”
Diese Nachricht traf mich wie ein Schlag: Englische Niederlassungen am Essequibo, also unweit des Pomerun, dem wir zusteuerten! Das bedeutete, daß mein Umherirren in diesem fremden Land ein Ende haben würde, daß ich leicht das schützende Dach von Landsleuten erreichen konnte. In meiner Freude hätte ich Pedro am liebsten an die Brust gedrückt und alle Gefährten umarmt, doch als sich der erste Begeisterungssturm gelegt hatte, kamen mir plötzlich Zweifel.
Ich deutete auf die Karte und sagte: „Das alles ist doch ein Teil Südamerikas, als dessen ausschließliche Herren seit der Entdeckung sich die Spanier bezeichnen?”
„So ist es.”
„Wie konnten sich dann Holländer und Engländer hier niederlassen? Oder geschah das mit Zustimmung der Spanier?” „0 nein, Herr!”
„Warum jagen die Spanier sie dann nicht zum Teufel?”
„Weil sie es nicht können. Ihre Herrschaft reicht nicht bis nach Guayana.”
„Sie reicht nicht so weit?”
„Diese Niederlassungen sind einfach zu weit entfernt von den Hauptstützpunkten der Spanier in Venezuela. Außerdem breitet sich zwischen Venezuela und den von den Engländern und Holländern in Besitz genommenen Ländereien ein großer tropischer Urwald aus, der nur sehr schwer zu durchqueren ist. Dort hausen kriegerische Stämme, die schon manche spanische Expedition vernichtet haben, zum Beispiel die vorhin erwähnten Akawois am. Cuyuni. Die Spanier haben es daher aufgegeben.” „Und die Akawois dulden die Holländer an ihrem Fluß? Sie bekriegen sie nicht?”
„Man sagt, daß sie in einem sehr guten Verhältnis mit den Holländern leben, daß es ihre Verbündeten seien.”
An dem, was Pedro geschildert hatte, mußte etwas Wahres sein, obwohl es mir anfangs so phantastisch erschienen war: Irgendwo am Essequibo mußten Engländer sitzen! Das änderte meine bisherigen Pläne, die Freiheit wiederzugewinnen und ins Vaterland zurückzukehren, von Grund auf.
Die Unterhaltung mit Pedro klärte noch etwas anderes: das Datum. Bereits seit Monaten war ich mit der Zeitrechnung nicht mehr im reinen. Jetzt konnte ich mit Hilfe Pedros feststellen, daß der heutige Tag der 12. September im Jahre des Herrn 1727 war. Ich legte Pedro die Verpflichtung auf, jeden Tag genau zu vermerken.
Nach alter Gewohnheit gingen wir am Abend in der Nähe der Küste vor Anker und setzten bei Tagesanbruch unsere Reise fort. Am Mittag des folgenden Tages bot sich mir ein eindrucksvolles Bild dar. Ich stellte fest, daß sich die Pflanzenwelt auf dem Festland veränderte. Das armselige, stachlige, verknotete Strauch-werk, das ich gewohnt war, verlor sich in einer hochstämmigen Wand unheimlich dichten, dunkelgrünen Waldes. Das war er, der berüchtigte Urwald der tropischen Länder. Nun lag sie vor mir, die üppige grüne Pracht, diese herrliche Frucht südlicher Sonne und dampfender Feuchtigkeit. Das vom Überschwang der Natur bezauberte Auge konnte sich nicht losreißen vom Fernrohr, gebannt stand der fanatische Jäger, der bisher nur die kühlen Re-viere seiner nördlichen Heimat durchstreift hatte.
„Von nun an”, erklärte Manauri, der meine Erregung bemerkte, „werden wir nur noch diesen Wald sehen. Nichts anderes wird es geben als dieses ewige Grün!”
„Überall?”
„Überall. Am Essequibo, am Pomerun, am Orinoko und überall zwischen diesen Flüssen, auf der ganzen Insel Kairi, welche die Spanier Trinidad nennen, sowie rings um die Pariabucht. Die ganze Gegend ist ein einziger Urwald.”
In jenen Breiten ist der September der Beginn der Trockenzeit, die sich nur dadurch von den übrigen Jahreszeiten unterscheidet, daß die Niederschläge schwächer und seltener und die Stürme weniger heftig sind. Diesem Umstand war es zu verdanken, daß das Meer im allgemeinen friedlich war und unsere Fahrt ruhig verlief, was wiederum dem Unterricht im Gebrauch der Feuerwaffen sehr zustatten kam, der regelmäßig vor sich gehen konnte. Die zwölf Teilnehmer waren mit Eifer bei der Sache und machten gute Fortschritte, während die andern hartnäckig in ihrem Widerstand verharrten und das Tun der Lernenden mit Blicken verfolgten, die geringschätziges Mitleid ausdrückten. Der Abend des dritten Tages aber brachte ein Ereignis, das wie ein Peitschenhieb wirkte und Bewegung in die widerspenstigen FauIenzer brachte.