„Was für Taten hat er begangen?” fragte Manauri.
„Ach!” Fujudi machte eine wegwerfende Handbewegung. „Wozu soll man davon sprechen. Es ist besser, sich nicht daran zu erinnern.”
„Was du begonnen hast, sollst du auch vollenden”, drängte ihn der Häuptling.
„Er ist ein Unruhestifter, ein Hetzer und Raufbold”, sagte Fujudi anklagend und wies mit dem Finger auf Arasybo.
„Erkläre uns das näher!”
Das Vergehen Arasybos war schwer. Er habe die heiligsten Bräuche geschändet. Als er noch mit den Arawaken unter dem Geierberg lebte, habe er sich dem Spruch, den der Zauberer Kara-pana gegen seine Familie gefällt hatte, nicht fügen wollen, habe sich den Anordnungen des Zauberers widersetzt und dessen Ansehen untergraben. Dieser wahnsinnige Verleumder sei nicht einmal davor zurückgeschreckt, Karapana zu beschimpfen, daß er ein schwacher Zauberer sei. Nur dem Vorfall mit dem Kaiman und seinem Gebrechen habe er es zu verdanken, daß er nicht zum Tode verurteilt, sondern nur unter dem Geierberg zurückgelassen worden sei.
Entsetzt und voller Erstaunen, daß dieser unbeholfene arme Kerl solch einer verwegenen Tat fähig sein sollte, blickten alle auf Arasybo.
„Stimmt das?” wandte Manauri sich an den Hinkenden.
„Es war so”, brummte dieser, doch konnte man an seinen trotzigen Augen erkennen, daß er sich nicht schuldig fühlte.
„Vielleicht war der Zauberer ungerecht zu ihm?” brachte ich zu Arasybos Verteidigung vor.
Meine Worte verhallten, ohne von jemandem beantwortet zu werden, ja, ich wußte nicht einmal, ob sie überhaupt beachtet worden waren. Offenbar galt das Ansehen des Zauberers als unantastbar, und über seine Gerechtigkeit durfte kein Urteil gefällt werden.
„Ich wüßte nicht, warum eine neue Sippe den Zorn der Ältesten hervorrufen sollte”, sagte Manauri, an den von Fujudi vorgebrachten Vorwurf anknüpfend.
„Koneso liebt solche Dinge nicht’, antwortete Fujudi kurz. „Er liebt sie nicht?”
„Vielleicht erkennt er sie auch nicht an.”
Ungeduldig biß sich der Häuptling auf die Lippe, sein Blick verfinsterte sich. Schließlich sagte er: „Aber er wird anerkennen müssen, daß wir zurückgekehrt sind.”
„Das ohne Zweifel.”
„Auch daß wir eine Reihe von Jahren in der Sklaverei waren.” „Auch das.”
„Er wird anerkennen müssen, daß wir in der Welt manches gesehen und viel Neues kennengelernt haben, daß unser böses Schicksal uns gelehrt hat, zu überlegen. Er wird auch verstehen müssen, daß wir härter, klüger und weniger furchtsam geworden sind.”
Was Manauri hier vorbrachte und wie er es tat, war nicht dumm; man merkte, daß der Häuptling genau wußte, was er wollte. Beifällig folgten die Gefährten seinen Worten, Fujudi dagegen hörte ihn mit herausfordernder Miene an.
Es entstand ein Schweigen, das Fujudi erst nach einer Weile unterbrach: „Und wer soll das Haupt eurer Sippe sein?” Manauri und einige andere sahen zu mir hin.
„Nein, ich nicht.” Mit diesen Worten lehnte ich von vornherein ab. „Ich werde euch in kurzer Zeit verlassen und nach Süden zu den englischen Faktoreien fahren. Es ist ganz klar, daß Manauri euer Führer sein wird.”
Der Fluß hatte hier keine Ufer; der Urwald bildete zu beiden Seiten sogenanntes Bruchmoor, das für den menschlichen Fuß unpassierbar ist. Meilenweit ragten die Bäume unmittelbar aus dem Wasser auf oder standen auf wasserdurchtränkten Mooshügeln, nur selten zeigte sich ein trockener Werder. Der Gestank faulen-der Pflanzen, der aus dem Sumpf herüberwehte, war zeitweise so betäubend, daß mir übel wurde. Hier zu leben war einfach unvorstellbar. Und doch brodelte in dieser verlorenen Wildnis überschäumendes tierisches Leben — der Wald wimmelte von Vögeln, und Myriaden von Insekten summten in der schwülen Luft. Hier bemerkte ich zum erstenmal ganz außergewöhnliche Schmetterlinge. Sie waren so herrlich, daß ich meinen eigenen Augen nicht trauen wollte. Strahlend blau wie der Himmel und groß wie zwei Handflächen, flatterten sie aus dem Dickicht empor und kreisten über unserem Schiff. Etwas Zauberhaftes ging von ihnen aus und gaukelte dem Menschen ein blaues, glückliches Märchenland vor. Die Indianer verstärkten diesen Zauber noch, indem sie behaupteten, daß manche Schmetterlinge Waldgeister seien, die den Menschen oft böse Streiche spielten. Ich aber konnte keine Boshaftigkeit mit solcher Schönheit in Verbindung bringen und lächelte über das Geschwätz der Freunde. Die machtvolle Größe der uns umgebenden Natur legte sich drückend auf die Gemüter. Der Urwald in seiner unheilverkündenden Majestät wirkte so gewaltig, daß die menschlichen Sorgen klein und nichtig erschienen und in seinem Schatten untergingen, so wie das Licht einer Kerze in gleißender Sonnenflut verschwindet.
Eines Tages tauchten weit im Süden langgestreckte bewaldete Hügel auf, es waren die Ausläufer des großen Höhenzuges, den Pedro als Sierra Imataka bezeichnet hatte. Diese von Westen nach Süden verlaufende rund fünfhundert Meilen lange Hügelkette
bildete eine Barriere, hinter der im Süden die Wasser des berüchtigten Cuyuni flossen. Allein der Anblick dieser fernen Berge ließ uns erleichtert aufatmen; denn dort gab es bestimmt keine qualbringenden Sümpfe.
Die arawakischen Dörfer lagen einige Meilen oberhalb der Mündung des Itamaka in den Orinoko. Wir hatten die Mündung noch lange nicht erreicht, da boten uns die immer noch etwas sumpfigen Ufer eine neue, frohe Überraschung.
Aus dem Röhricht und aus kleinen Buchten schossen Boote her-vor und ruderten auf uns zu. Die Kunde von unserer Ankunft war uns vorausgeeilt, und die Arawaken kamen, um ihre heimkehren-den Brüder willkommen zu heißen. Väter suchten ihre Söhne, und Brüder begrüßten Brüder. Viele erklommen den Schoner, der bald von fröhlichem Lärmen erfüllt war.
Mir näherten sich die Arawaken nur sehr zaghaft. Sie wagten es kaum, die Augen zu mir zu erheben, und wenn sie es taten, so spiegelte sich Scheu in ihrem Blick, als hätten sie ein überirdisches, Wesen vor sich. Erst als sie merkten, daß auch ich ein Mensch wie alle andern war und freundschaftliche Gefühle für sie hegte, wurden sie kühner.
„Sie sprechen davon, daß du eine Menge Schätze mitführst”, erklärte mir Manauri lachend.
Der Häuptling strahlte vor Freude. Er fühlte, daß er während der unglücklichen Jahre bei seinen Stammesbrüdern nicht in Vergessenheit geraten war. Alle, die auf das Schiff kamen, erkannten ihn sofort und begrüßten ihn achtungsvoll. Nur eines bereitete ihm Kummer: daß sein Bruder Pirokaj, der jetzige Häuptling seiner Sippe, nicht gekommen war, um ihn willkommen zu heißen. Dieser Pirokaj war — wie mir Manauri öfter erzählt hatte — ein von Neid und Mißgunst geplagter Mensch. Übrigens kam keiner der Stammesältesten auf unseren Schoner, es waren lauter einfache Menschen und Krieger, die uns so herzlich und überschwenglich begrüßten.
Seit unserer Abreise von Kaiiwa waren vier Tage verflossen, als wir das Dorf Konesos erreichten. Der Ort hieß Serima, lag auf dem trockenen Ufergelände des Itamaka und war von herrlichem, hochstämmigem Urwald umgeben.
Dieser letzte Tag unserer großen Fahrt war äußerst schwül. Kein Blättchen regte sich, und die Sonne verschwand hinter einem Vorhang feuchten Dunstes. Meine Gefährten nötigten mich wieder in die spanische Galauniform; sie selbst zogen spanische Hemden und Hosen über, legten sich Degen um und steckten erbeutete Jagdmesser in ihre Gürtel. So boten sie einen zwar absonderlichen, aber entschieden prachtvollen Anblick.
Es fiel mir auf, daß die sonst so ausgeglichene Lasana an diesem Tag recht aufgeregt war. Sie hatte bereits versucht, ein Gespräch mit mir zu beginnen, doch war im Durcheinander der Vorbereitungen für die Ankunft und im Begrüßungslärm der letzten Stunden eine Unterhaltung nicht möglich. Auf jeden Fall hatte sie ein Anliegen, das erkannte ich aus den Blicken, die sie mir zuwarf.