„Wollt ihr wissen, wo es ist?” fragte er und. blickte triumphierend in die Runde.
„Da sind wir aber neugierig”, ließen sich einige Stimmen vernehmen.
„Gleich werdet ihr es sehen!”
Er trat an den Gefangenen heran, griff ihm unter die Arme und stellte ihn mit einem Ruck auf die Beine.
„Seht ihr es jetzt?’ rief er zornig aus.
Wir sahen es alle: An der Schnur, die um die Hüfte des Jünglings geschlungen war, baumelte ein Stück Bambusrohr. „Was hast du in diesem Rohr?” herrschte Arnak den Gefangenen an.
Der bot ein Bild des Jammers. Das war nicht mehr der hochmütige, trotzige Lehrling des Zauberers; der hier stand, war ein Lausejunge, halb ohnmächtig vor Schrecken, ein Bengel, der vor Angst und Aufregung bebte.
„Was steckt in dem Bambusrohr?” wiederholte jetzt Manauri scharf und befehlend die Frage. „Sprich!”
Kanaholo murmelte etwas Unverständliches vor sich hin. Seine
plötzliche Erschütterung festigte unsere Überzeugung, daß das Röhrchen etwas Verdächtiges enthalten müsse, doch waren wir noch nicht völlig sicher. Arasybo sprang hinzu, riß das Bambusstückchen von der Schnur ab, zog den Verschluß heraus und schüttete den Inhalt vor unser aller Augen auf seine Handfläche. Vor Aufregung ließ er jede Vorsicht außer acht. Es kamen zwei oder drei zusammengedrehte Blätter zum Vorschein.
„Kumarawa!” brüllte der Hinkende mit wutzitternder, sich überschlagender Stimme. In diesem Augenblick sah er einem höllischen Dämon ähnlicher als einem Menschen.
Er hielt die ausgestreckte Hand in den Feuerschein und forderte die Umstehenden auf, näher zu kommen und sich die Blätter genau anzusehen.
„Ist das Kumarawa oder nicht?” fragte er einen jeden; dabei gurgelte, scharrte und pfiff es in seiner Kehle vor unbezähmbarer Erregung. Er fühlte, daß der Augenblick gekommen war, in dem sich alles entschied, in dem er die Herrschaft des Zauberers, seines erbitterten Feindes, vernichten konnte. Siegesfreude, Haß und Wahnsinn spiegelten sich in seinem zuckenden Gesicht. Wie ein Besessener krächzte er jedem Hinzutretenden entgegen: „Sage mir, ob das Kumarawa ist.”
„Es ist Kumarawa”, bestätigten die Angehörigen unserer Sippe voller Abscheu.
Die andern beantworteten seine Frage nicht; bedrückt hüllten sie sich in Schweigen. Sie sahen die Blätter, erkannten sie und konnten nichts in Abrede stellen.
Lasanas Mutter drängte sich mit einer weißen Matte durch die Menge.
„Wirf die Blätter hier hinein”, forderte sie den Hinkenden auf. „Du wirst dir noch selbst Schaden zufügen.”
Arasybo warf die Blätter darauf, nahm die Matte in seine Hände und hielt sie immer neuen Menschen unter die Augen.
Währenddessen glaubte Kanaholo, der wieder auf der Erde lag, daß seine letzte Stunde gekommen sei, und zitterte wie im Fieber.
„Sieh dir den Jaguar an”, rief ihm Manauri zu, „und sprich die Wahrheit, wenn dir dein Leben lieb ist! Willst du nun reden?” „Ich ... ich werde sprechen”, schluchzte der Gefangene. „Wer hat dich hierher geschickt?”
„Karapana.”
„Sprich lauter, damit es alle hören können: Wer hat dich geschickt?”
„Karapana. . . der Zauberer.”
„Hat er dir auch die Kumarawablätter gegeben?”
„Er. . . hat sie mir gegeben.”
„Und was solltest du mit ihnen tun?”
„Er trug mir auf, ich soll sie dem.. . dem Kind Lasanas unterlegen.”
„Wie oft hast du es getan?”
„Dreimal... nein, viermal.., ja, viermal.”
„Sollte das Kind sterben?”
„Ja. . . ja, es sollte. . .”
„Damit die Schuld auf den Weißen Jaguar fällt?”
Der Bursche konnte nicht mehr antworten, da er von einem heftigen Weinkrampf geschüttelt wurde. Außerdem genügte das, was er gesagt hatte, um die Versammelten zu überzeugen. Alle hatten gehört und verstanden: Karapana war der Anstifter dieses Verbrechens, niemand durfte an seiner Schuld zweifeln.
Der Vater des Jungen, den unser Bote geweckt hatte, kam herbei. Eigentlich war seine Anwesenheit nicht mehr erforderlich, denn der anfangs so trotzige Knabe hatte seine Schuld eingestanden. Auf den ersten Blick war zu erkennen, daß Aripaj — so hieß der Vater des Gefangenen — ein aufrechter, ehrlicher Mensch war, der von dem bösen Treiben des Sohnes bestimmt keine Kenntnis hatte. Kanaholo mußte noch einmal wiederholen, was er zuvor gestanden hatte. Der Vater hörte mit düsterer Miene zu, betroffen wanderten seine Augen zwischen uns und dem Sohn hin und her. „Was werdet ihr mit ihm machen?” fragte er schließlich.
Einige forderten den Tod des jungen Schuldigen und beriefen
sich dabei auf den überlieferten Stammesbrauch. Die Mehrzahl aber urteilte nicht so streng und gab zu bedenken, daß Kanaholo nur das Werkzeug in den Händen des eigentlichen Täters gewesen war. Diese Gemäßigten verlangten nicht sein Leben, und als ich um meine Meinung gefragt wurde, unterstützte ich diese Gruppe mit allen Kräften. Darauf wurden dem Jüngling die Fesseln abgenommen, und seinem Vater wurde bedeutet, er solle mit ihm nach Hause gehen.
„Paß auf ihn auf’, sagte ich zu Aripaj. „Kümmere dich mehr um ihn und gib ihn nicht in unsichere Hände.”
Der Indianer freute sich, daß Kanaholo mit heiler haut davongekommen war, doch blieb seine Miene düster.
„Mein Sohn”, antwortete er niedergeschlagen, „befindet sich nicht in meiner Obhut. Er wurde dem Zauberer übergeben und muß auch zu diesem zurückkehren.”
Am nächsten Tag lief das traurige Gerücht durch die Hütten der Arawaken, Kanaholo sei plötzlich gestorben. Man hatte den unglücklichen Burschen unweit von Serima am Rande des Urwalds tot aufgefunden, ohne Zeichen äußerer Gewalt. Die Angehörigen unserer Sippe nahmen die Nachricht mit ungewöhnlicher Ruhe auf, sie hatten etwas Ähnliches erwartet. Der arme Schlucker hatte, wenn auch nicht aus freien Stücken, das Geheimnis des Zauberers verraten und nun die Strafe dafür empfangen.
Die Repartimientos
Der Umstand, daß wir Kanaholo auf frischer Tat ertappt hatten, sowie dessen Geständnis befreiten mich von dem blödsinnigen Verdacht, ich besitze eine verbrecherische Seele. Aber auch der eigentliche Urheber des Verbrechens blieb ungeschoren. Der durchtriebene Zauberer verstand sich herauszuwinden. Sein Ansehen im Stamm ermöglichte ihm dies. Obwohl alles gegen ihn Zeugnis ablegte, nicht zuletzt der Tod Kanaholos, waren die Menschen in Serima so eingeschüchtert und furchtsam, daß sie es nicht wagten, sich gegen ihn zu erheben. Lieber schenkten sie den unglaubwürdigen Einflüsterungen des Zauberers Gehör, der das Gerücht in Umlauf setzte, daß es bei Kanaholo wohl nicht mit rechten Dingen zugegangen sei; wahrscheinlich habe man das Geständnis durch Anwendung geheimnisvoller Mittel von ihm erpreßt und dem Tölpel die giftigen Blätter heimlich untergeschoben. Mit einem Wort, Karapana verkehrte alles ins Gegenteil, und es gab Leute in Serima, die aus Furcht oder Bequemlichkeit diesem ungereimten Geschwätz Glauben schenkten.
In unserem Freundeskreis fanden mehrere leidenschaftliche Beratungen statt. Was sollten wir tun? Wir gelangten zu der Überzeugung, daß der zwar erschütterte, aber immer noch sehr große Einfluß des Zauberers nicht ausgeschaltet werden könne, ohne blutige Unruhen im Stamm hervorzurufen.
Aus diesem Grund kamen wir auf unsere ursprüngliche Absicht zurück und beschlossen, alles für die Abreise vorzubereiten. Unsere ganze Sippe sehnte sich danach, so schnell wie möglich von hier wegzukommen, denn die verbrecherischen Machenschaften des Zauberers steckten allen wie ein Knochen im Halse. In den letzten Tagen hatten sich die Freundschaftsbande zwischen der Sippe und mir noch mehr gefestigt, es waren Bande der Hoffnung und des Vertrauens in unsere gemeinsame Zukunft.