„Er wurde nicht verschleppt, als euch die Spanier überfielen?” „Nein. Damals waren er und viele andere gerade unterwegs.” „Das bedeutet, daß er nach dem Überfall zurückkehren und hier weiterleben konnte?”
„Das konnte er.”
In diesem Augenblick tauchte Arnak wieder auf und berichtete, daß er in der Hütte nichts Verdächtiges gefunden habe. Einige unwichtige Gegenstände, wie Flaschenkürbisse, die als Wasserbehälter gedient hatten, und ähnliches, lägen noch auf dem Boden, und die Hütte mache den Eindruck, daß ihre Bewohner sie aus eigenem Entschluß verlassen hätten.
„Spuren von Gewalt hast du nirgends entdeckt?” fragte der Häuptling.
„Nein, nirgends.”
Ringsum herrschte tiefe Stille. Alles deutete darauf hin, daß das ganze Dorf unbewohnt war.
Als die Indianer ihre Verblüffung überwunden hatten, überkam sie eine tiefe Niedergeschlagenheit, von der, das war begreiflich, auch ich erfaßt wurde. Hinter der Leblosigkeit dieses indianischen Dorfes verbarg sich ein unheilverkündendes Geheimnis. Als wir auf die verlassene Hütte zugingen, warnte ich die Gefährten, sie unnötigerweise zu betreten. War es doch nicht ausgeschlossen, daß eine Seuche die Einwohner des Dorfes von ihren Heimstätten vertrieben hatte.
Kurz darauf kamen wir an einer Brandstätte vorüber. Einer der Indianer erinnerte sich, daß die Hütte, die hier gestanden hatte, niedergebrannt wurde, als die Spanier das Dorf überfielen und ihn in die Sklaverei verschleppten. Diese Hütte war also schon vor langer Zeit vernichtet worden, während die Indianer, wie wir aus Spuren in den nächsten Hütten feststellen konnten, das Dorf erst vor ein oder zwei Jahren verlassen hatten. In dieser traurigen Umgebung tasteten wir uns vorsichtig bis ans Ende der Siedlung vor und stießen überall auf leere Hütten, die offensichtlich freiwillig geräumt worden waren. Die Hütten standen nicht dicht beisammen, sondern waren über dreihundert oder vierhundert Meter verstreut. Schließlich versperrte uns ein breiter, aber seichter Fluß, der in der Lagune mündete, den Weg. Wir ließen uns am Ufer im Schatten einiger Bäume nieder, um leise zu beratschlagen.
„Eins steht fest”, erklärte ich, „hier hat weder ein Überfall stattgefunden, noch ist Blut vergossen worden.”
Manauri pflichtete mir bei und sagte: „Nirgends sind Spuren eines Kampfes zu finden: kein zerbrochener Speer, keine Pfeile. Nichts.”
„Aber wohin sollten sie denn gegangen sein?” gab Arnak zu bedenken.
„Ich glaube, sie haben sich tiefer in den Wald zurückgezogen, weil sie an der Küste ständig gewärtig sein mußten, von den weißen Piraten überfallen zu werden”, äußerte ich meine Meinung.
Damit hatte ich allen Gefährten aus dem Herzen gesprochen. Wir klammerten uns an diese Möglichkeit, denn auf ihr ließen sich begründete Hoffnungen aufbauen, daß das Dorf weder einer Katastrophe noch einer todbringenden Krankheit zum Opfer gefallen war.
„Sicher haben sie sich nicht allzuweit vom Meer entfernt, und wir werden sie am Tag leicht finden”, ergänzte Manauri. „Und die anderen vier Dörfer, wo liegen die?” fragte ich. „Auch an diesem Fluß, nur weiter oben.”
„Weit von hier?”
„Nein, nicht weit. Das nächste Dorf ist ungefähr zweimal zehn Pfeilschüsse entfernt.”
„Zwanzig Pfeilschüsse, also kaum eine halbe Wegstunde. Das ist wirklich sehr nahe.”
„Ja, es ist nicht weit.”
Der Häuptling sah, daß sich meine Züge belebten, und erriet sofort den Grund.
„Ich weiß, woran du denkst’, sagte er. „Man müßte sich überzeugen, wie es dort aussieht.”
„Natürlich! Vielleicht sind eure Leute dorthin gegangen.”
Prüfend betrachteten wir den Mond und die Sterne. Bis Mitternacht war es noch weit. Vor Tagesanbruch sollten wir wieder auf dem Schoner sein, doch wollten wir, wenn irgend möglich, vorher Klarheit über die Lage in den übrigen arawakischen Dörfern
haben. Manauri bestimmte daher vier Indianer, die mit der Umgebung vertraut waren, schickte sie flußaufwärts und befahl ihnen, ihre Füße nicht zu schonen. Wir wollten hier auf ihre Rück-kehr warten.
In der Nähe des Ufers war die Erde feucht, stellenweise sumpfig und mit üppig wuchernden Pflanzen bedeckt. In der Luft lag ein so durchdringender Geruch von schimmelnden Blättern und modernden Wurzeln, daß einem fast die Sinne zu schwinden drohten. Obwohl dieser Pflanzengürtel höchstens dreißig bis vierzig Schritt breit war, entströmten dem Dickicht so viele phantastische Laute, daß ich das Toben rätselhafter Ungeheuer zu vernehmen glaubte, die rasend vor Wut ihre gierigen Rachen aufrissen. Es klapperte, knisterte, quakte und kreischte, es stöhnte und klopfte, und von Zeit zu Zeit ertönte ein gräßliches Zischen, das bis ins Mark drang. Es schien, als hätten die Tore der Hölle fürchterliche Bestien ausgespien, die nun in diesen Büschen ihr Unwesen trieben.
Selbst die Nächte der weiten Wildnis Virginias hatten ihre Stimmen, auch im trockenen Gestrüpp auf der einsamen Insel war es des Nachts lebendig geworden; doch verglichen mit dem, was wir jetzt an diesem Fluß über uns ergehen lassen mußten, war es nichts.
Die an solches Lärmen gewöhnten Indianer schenkten dem Tumult kaum Beachtung. Ich aber rief aus: „Dieses Zischen ist ohrenbetäubend! Wer bringt es bloß hervor?”
„Grillen und anderes Geschmeiß”, antwortete Manauri.
Ein Geschöpf begann lauthals zu miauen. Unwillkürlich schauderte mich.
„Ist das ein wilder Kater?”
„Nein. Es ist ein Frosch, der irgendwo in den Blättern hockt.” Plötzlich setzte ein Pochen ein. Es klang, als dengele ein Schmied mit dem Hammer eine Sense.
„Und was ist das? Etwa ein Vogel?”
„Nein. Es ist auch ein Frosch, nur sitzt er diesmal im Wasser.”
Jetzt ertönte ein dumpfes Kreischen und gleich darauf ein Klatschen im Fluß. Manauri lauschte ein Weilchen und überlegte. Schließlich sagte er: „Was das war, weiß ich nicht. Vielleicht eine große Wasserratte.”
„Gibt es hier keine größeren Raubtiere?”
„Auch die könnte es geben.”
Er wandte sich um, ließ seinen Blick über das Dickicht schweifen und erklärte dann mit Bestimmtheit: „Nein, hier gibt es keine.”
Dafür zeichnete sich der Ort durch eine andere, äußerst unangenehme Besonderheit aus: Mücken — es mußten
Milliarden sein — umkreisten in Schwärmen die Menschen und stachen mit unvorstellbarer Blutgier. Die Indianer waren daran gewöhnt. Standhaft und geduldig ertrugen sie die Plage und schlugen immer wieder nach den Quälgeistern. Ich aber glaubte wahnsinnig zu werden. Schließlich entfernte ich mich etwa hundert Schritt von dem Ufergebüsch und stieg einen sandigen Hügel hinauf. Hier war der ganze Spuk wie weggeblasen. Ich war zufrieden, streckte mich behaglich in den Sand und wartete.
Wallende kleine Wolken zogen am Himmel dahin, schoben sich ineinander und verhüllten von Zeit zu Zeit die Scheibe des Mondes. In solchen Minuten herrschte tiefe Finsternis. Obwohl mir der gute Manauri versichert hatte, daß es hier bestimmt keine Raubtiere gäbe, war ich zu sehr Jäger, um auch nur einen Augenblick zu vergessen, daß diese Wildnis allen möglichen blutdürstigen Lebewesen als Jagdrevier dienen könnte, und prüfte vorsichtshalber das Pulver auf der Pfanne meiner Pistole.
Ich hatte gut daran getan. Während der Mond wieder einmal hinter einer Wolkenbank verschwand und mein forschender Blick das Dunkel zu durchdringen suchte, glaubte ich zwischen zwei Büschen eine verdächtige Bewegung wahrzunehmen. Täuschten mich etwa die Sinne? Nein, bestimmt nicht! Nun sah ich es ganz deutlich: dort drüben glitt ein Schatten dahin. Vorsichtig tastete ich nach der Pistole und richtete sie auf das Tier.
Da kamen mir plötzlich Zweifel, ob ich durch meinen Schuß die ganze Umgebung alarmieren durfte, solange unsere Lage noch ungeklärt war.