Nach den Bewegungen zu schließen, hatte mich das Tier nicht bemerkt. Seine ganze Aufmerksamkeit war dem Flußufer zugewandt, wo meine Gefährten ruhten. Es schien ziemlich groß zu sein, doch konnte ich seine Gestalt in der Dunkelheit nicht genau erkennen. Am ehesten hielt ich es für einen großen Affen.
Noch immer war ich unschlüssig, ob ich schießen sollte oder nicht. Die Entfernung betrug höchstens zehn bis zwölf Schritt. Für alle Fälle spannte ich die Pistole, aber da hatten die wachsamen Ohren des Tieres das leise Knacken des Hahnes auch schon vernommen, und im Nu war es im Gebüsch verschwunden.
Ich hatte genug von der Einsamkeit. Während ich zum Fluß hinabstieg, dachte ich über dieses reiche, verlockende und zugleich schreckliche Land nach, in das mich das Schicksal verschlagen hatte. Eine unerschöpfliche Vielfalt wilden Lebens brodelte im Buschwerk, und alle diese Tiere dünkten mich verwegen und schreiwütig.
Ich erzählte den Gefährten, was ich auf dem Hügel beobachtet hatte, und sprach meine Vermutung aus, daß es ein Affe gewesen sei.
„Ein Affe?” fragte Manauri verwundert. „Das ist unmöglich.” „Was könnte es sonst gewesen sein?”
„Ein anderes Tier, vielleicht ein Tapir.”
„Ist der Tapir groß?”
„Ziemlich groß und etwas schwerfällig.”
„Dies Tier schien gewandt zu sein und nicht schwerfällig.” „Vielleicht war es ein Puma. Hatte es ein helles Fell?”
„Es war eher dunkel.”
„So große Affen gibt es hier nicht! Auch halten Affen sich auf den Bäumen auf und kommen nur selten herunter.”
Kurz danach kamen unsere Kundschafter zurück, und die schlimmen Nachrichten, die sie brachten, trafen uns schwer.
Alle Siedlungen waren genauso verlassen wie dieses Dorf am See. Sie hatten keinen Menschen angetroffen, und die Hütten waren zum Teil schon zerfallen.
„Da brauchen wir nicht erst in die Lagune zu fahren”, äußerte jemand mit entsagender Stimme.
„Sondern? Was sollen wir tun?”
„Wir segeln gleich weiter bis zum Pomerun. Dort treffen wir auf unsere Stammesbrüder.”
„Dazu rate ich nicht”, wandte ich ein. „Denkt an gestern, denkt an das Schiff, das hinter uns her war. Wenn es bekannt wird, daß wir unsere Verfolger getötet und den Schoner erbeutet haben — und das wird bald bekannt, wenn es nicht schon geschehen ist — , dann werden die Spanier das ganze Meer nach uns absuchen, und es wird ihnen nicht schwerfallen, uns zu entdecken.”
„Was rätst du uns also?”
„Wir verbergen uns einige Wochen in der Bucht und kommen erst aus unserem Versteck hervor, wenn sich der Sturm etwas gelegt hat. Dann können wir zu eurem Pomerun aufbrechen.”
„Jan spricht gut! Jetzt auf dem offenen Meer umherzuschaukeln heißt sich die Not auf den Leib hetzen. Es ist besser, wenn wir uns hier verbergen.” Es war Arnak, der mir beipflichtete.
Auch Manauri stimmte zu.
„Das ist richtig, auch ich bin dieser Meinung”, sagte er. „Außerdem halte ich es für notwendig, daß wir die Hütten am Tag noch einmal untersuchen. Vielleicht finden wir eine Erklärung, warum die Dörfer verlassen wurden.”
Dieser Entschluß war bald gefaßt, und wir traten unverzüglich den Rückweg zum Schiff an. Wagura und zwei weitere Indianer sollten an Land bleiben und den Schoner in der Bucht erwarten. Sie begleiteten uns durch das Dorf bis zu dem Baum, in dessen Höhlung meine Stiefel verborgen waren.
„Ziehst du sie an?” fragte mich Wagura.
„Er zieht sie an”, sagte Manauri, ohne meine Antwort abzuwarten. Offenbar war er um mein teures Leben sehr besorgt.
„Meinetwegen”, brummte ich und gab nach.
Wagura lief zu dem Baum. Gleich darauf hörten wir einen Ausruf des Erstaunens und eilten zu ihm.
„Die Stiefel sind weg!” rief er völlig fassungslos.
Es war derselbe Baum; ich erkannte ihn an der Höhlung. Die Stiefel aber waren verschwunden.
„Zum Teufel! Was soll das bedeuten?” schrie Manauri. „Ist es Zauberei?”
„Ich habe die Stiefel gut verwahrt’, versicherte Wagura. „Jemand muß sie gestohlen haben.”
„Jemand, der uns heimlich beobachtet hat’, sagte Arnak mit verängstigter Stimme und sah sich furchtsam um.
Von Entsetzen gepackt, flüsterte einer der Indianer ganz verstört, er wisse, wessen Werk das sei: Der schreckliche Kanaima, der über alles herrsche, also auch über diese Wildnis, habe die Stiefel geholt. Sicher habe er alle Einwohner ermordet und wolle nun auch uns töten.
„Schweig!” unterbrach ihn Manauri mit zornbebender Stimme. „Fasle nicht wie ein altes Weib!”
„Er faselt nicht.” Ein anderer Indianer kam dem Gescholtenen zu Hilfe. „Oder willst du nicht sehen, Häuptling, was in diesen Dörfern geschehen ist? Hier muß sich etwas Furchtbares ereignet haben. Alle Bewohner sind fort! Wer hat sie ausgerottet? Wer hat sie verjagt?.. . Und nun diese Stiefel!”
„Kanaima. Kanaima war es”, flüsterten bebende Lippen. „Laßt uns fliehen!” Immer häufiger erscholl dieser Ruf.
„Der Ort ist verzaubert! Die bösen Geister werden uns töten! Kanaima!”
Schnell wandte ich mich an Arnak und fragte ihn: „Wer ist dieser Kanaima?”
„Ein fürchterlicher Geist der Rache. Alles Böse, das sich ereignet, ist sein Werk.”
Einige waren so von abergläubischer Furcht erfüllt, daß sie tatsächlich davonlaufen wollten. Am schlimmsten stand es mit
dem Indianer, der als erster den Namen Kanaima ausgesprochen hatte. Er war völlig von Sinnen und zitterte am ganzen Körper. Mir war das unbegreiflich, denn ich hatte ihn als furchtlosen Krieger kennengelernt, der sich erst vor wenigen Tagen, während der Auseinandersetzung mit den Spaniern, in das heißeste Kampfgetümmel geworfen hatte. Ich begann zu ahnen, welche entsetzlichen Fesseln des Aberglaubens und der Finsternis die Seelen dieser Menschen umspannt hielten. Manauri hatte Mühe, sie zur Besinnung zu bringen.
Ich mußte wieder an mein Erlebnis auf dem Sandhügel denken, und als der Schatten des geheimnisvollen Tieres vor meinen Augen auftauchte, zuckte ich plötzlich zusammen. Sollte es möglich sein? Ohne Zweifel! Es war kein Tier, das ich gesehen hatte, es mußte ein Mensch gewesen sein! Nur ein Mensch konnte so aus-sehen, nur ein Mensch konnte sich so bewegen.
„Ich hab's! Nun sehe ich klar”, flüsterte ich.
Als ich den Gefährten meine Vermutung mitteilte, stimmten sie mir zu. Das Verschwinden der Stiefel war mit einemmal zu einer Angelegenheit geworden, die sie begreifen konnten, und die Schreckbilder der Geister zerstoben. Kanaimas Macht war zu Ende. Dafür erhob sich eine neue Gefahr vor uns: Ein unbekannter Mensch war aufgetaucht. War es ein Feind oder ein Freund?
Wir hielten trotzdem an unserem Plan fest, das Schiff in der Bucht zu verbergen. Daß wir vom offenen Meer verschwanden, erschien uns im Augenblick unerläßlich und als die dringendste V orsichtsmaßregel.
Da es höchste Zeit war, auf den Schoner zurückzukehren, durch-querten wir schnellen Schrittes das Dickicht, ohne von jemandem angegriffen zu werden. Einige hundert Meter weiter, wo das Buschwerk am dichtesten war, trennten sich Wagura und seine beiden Gefährten von uns. Wir ließen die Pistolen bei ihnen zu-rück und trugen ihnen auf, Augen und Ohren offenzuhalten und auf alles zu achten, was sich während unserer Abwesenheit im Dorf ereignen würde.
Arasybo, der hinkende Indianer
In der Morgendämmerung lichteten wir den Anker und setzten bei aufkommendem Wind die Fahrt fort. Der Hals der Bucht — ich wüßte nicht, wie ich die kaum achtzig Meter breite Öffnung der Lagune zur See hin anders bezeichnen sollte — war nicht sehr tief. Manauri und seine Indianer mußten gut aufpassen, um zwischen den unter Wasser lauernden Riffen und den Untiefen die richtige Durchfahrt zu finden. Zum Glück hatte der Schoner keinen großen Tiefgang, und so schlüpften wir glatt hindurch. Als die ersten Sonnenstrahlen den Berghang in rotes Licht tauchten, schwammen wir bereits im ruhigen Wasser der Lagune.