„Hier kommt keine Brigantine durch!” rief Arnak.
„Du hast recht. In der Lagune haben wir von See her nichts zu befürchten”, stimmten wir ihm bei.
Im Südwesten zeichneten sich dunkel die Hütten des verlassenen Dorfes ab. Unsere Blicke glitten das Ufer entlang, ob nicht irgendwo ein Lebewesen zu entdecken sei — und wir fanden, was wir suchten. Unmittelbar am Wasser standen vier Gestalten und gaben uns Zeichen.
„Das sind die Unsern, der Kleine da ist Wagura! Ich erkenne ihn!” rief Manauri überrascht.
„Aber es sind vier, wenn mich nicht alles täuscht’, stellte ich fest.
„Ja, es sind vier. Einer ist hinzugekommen”, bestätigte Manauri. Durch das Fernglas konnte ich unsere drei Gefährten genau erkennen, auch den vierten in ihrer Mitte, den Fremden. Es war ein Indianer. Die Unsern behandelten ihn freundschaftlich, das war deutlich zu sehen. Ich reichte Manauri das Glas.
„Ah!” stieß er hervor, nachdem er einen Blick durch das Glas geworfen hatte, und war sichtlich beeindruckt.
„Du kennst ihn?” fragte ich.
„Ja, ich kenne ihn, er gehört zu unserem Stamm. Es ist Arasybo.” „So haben wir doch noch eine Spur des früheren Lebens gefunden?”
Wir hielten auf die Stelle zu, an der uns die vier Indianer erwarteten. Da die Bucht hier ziemlich tief war, kamen wir bis auf ungefähr zehn Klafter ans Ufer heran und warfen den Anker aus.
Die unverhoffte Begegnung erfüllte die Indianer begreiflicherweise mit großer Freude; doch gaben sie ihr weder mit Gesten noch in Worten Ausdruck, nur der Glanz ihrer Augen verriet die innere Erregung. Diese Zurückhaltung forderte der Brauch ihres Stammes.
Arasybo war ein mittelgroßer, untersetzter Mann in den besten Jahren, der merklich hinkte. In seinen Augen lag etwas Lauerndes, Durchtriebenes. Da ich ihm aber nicht unrecht tun wollte, sagte ich mir, daß dieser nachteilige Eindruck wohl nur durch sein häßliches Aussehen hervorgerufen würde. Seine Augen lagen zu eng beieinander, was dem Gesicht einen boshaften Ausdruck verlieh, und zu allem Unglück schielte er auch noch.
Seine Worte bestätigten zum Teil die von uns in der Nacht geäußerten Vermutungen. Die Arawaken hatten ihre Hütten kampflos verlassen, wenn auch nicht ganz freiwillig, sondern aus Furcht vor einem Überfall durch die Spanier. Die Sklavenhändler kamen nicht immer nur von der Seeseite.
Ungefähr zwanzig Meilen westlich der Bucht, in einer bergigen Steppengegend, war vor einigen Jahren ein großer spanischer Rancho entstanden, La Soledad genannt. Viehzüchter, die mit ihren Herden aus der Stadt Cumana gekommen waren, hatten sich hier niedergelassen und mit dem Recht der Faust und des Schwertes erklärt, daß das gesamte Gebiet, nicht nur das Land, sondern auch alle Indianer, die es bewohnten, von nun an ihnen gehöre. Sie hatten verkündet, daß sie alle, die versuchen sollten, sich der neuen Ordnung zu widersetzen, rücksichtslos ausrotten würden. Das waren keine leeren Worte. Die Arawaken waren als erste dazu bestimmt, den Kopf unter das Joch der Konquistadoren zu beugen. Da sie zahlenmäßig zu schwach und zu schlecht bewaffnet waren, um einen Kampf aufnehmen zu können, hatten sie nur eine Möglichkeit der Rettung gesehen — die Flucht. Seitdem waren zwei Jahre vergangen.
„Und ist ihnen die Flucht gelungen?” fragte ich.
„Sie ist gelungen. Der Stamm hat sich nach Süden gewandt, um die alten Wohnsitze der Arawaken in Guayana zu erreichen. Der größte Teil wählte den Weg durch die Steppe zum Orinoko, den sie überqueren mußten, die anderen verluden ihr Gut auf Boote, segelten immer die Küste entlang und konnten, wenn auch nach langer Fahrt, direkt in die Mündung des Pomerun einfahren.” „Woher willst du wissen, daß sie ihr Ziel erreicht haben?” drang ich weiter in ihn.
Arasybo runzelte die Stirn und überlegte. Nach einer Weile antwortete er: „Die auf den Schiffen hielten sich in der Nähe der Küste. Sie konnten also kaum untergehen oder sich verirren. Und die anderen, die durch die Steppe gezogen sind? Wären sie von den Spaniern aus La Soledad überfallen worden, so hätte ich bestimmt etwas davon gehört.”
„Wieso bist du als einziger hier zurückgeblieben, Arasybo?” forschte ich weiter.
Das Gesicht des Indianers verzog sich zu einer fürchterlichen Grimasse und nahm einen noch abstoßenderen Ausdruck an. Er tat mir leid. Wie konnte ein Mensch nur so häßlich sein, wenn er auch sicher nicht so schlecht war, wie er aussah.
„Als ich eines Tages am Fluß jagte”, erklärte er mit rauher Stimme, „erwischte mich ein riesiger Kaiman am Fuß. Es war ein Kampf auf Leben und Tod. Mit letzter Kraft kam ich doch noch frei, hatte aber so viel Blut verloren, daß ich ohnmächtig wurde.
Wie viele Tage ich so gelegen habe, weiß ich nicht. Am Abend vor dem Aufbruch fanden sie mich. Die Schiffe waren bereits abgefahren, und laufen konnte ich nicht, da mein Fuß gebrochen war. Der alte Medizinmann Karapana haßte mich, weil...”
Unsicher geworden, brach er ab.
„Also wie war das?” herrschte Manauri ihn an.
Arasybo machte eine geringschätzige Handbewegung und verzog das Gesicht zum Zeichen, daß es keinen Zweck habe, darüber zu sprechen.
„Rede! Weshalb haßte dich Karapana? Erzähle!” Manauri ließ nicht locker. „Auch wir sind keine Freunde von ihm. Also los!” „Er haßte mich, weil ich seine Beschwörungen und Zauberformeln kannte. Er fürchtete, ich könnte seine Macht untergraben. So hetzte er Koneso gegen mich auf. Dieser verbot, mich zu tragen, und verurteilte mich zum Hierbleiben, was einem Todesurteil gleichkam. Dann brachen sie auf und überließen mich meinem Schicksal. Meine Angehörigen stellten mir etwas Eßbares bereit und mußten mit den anderen fort. Trotz allem aber bin ich wieder gesund geworden. Wie ihr seht, kann ich gehen.”
Offenbar hielt er die Anspielung auf das Gehen für einen guten Scherz und versuchte zu lachen, doch verzog sich sein Gesicht lediglich zu einer bösartigen Fratze.
„Koneso ist also immer noch Häuptling?” knurrte Manauri zornig. „Und Karapana ist bei ihm?”
„Häuptling war er die ganze Zeit und steckte immer mit Karapana zusammen”, bestätigte Arasybo.
Unsere Lage war also klar. Noch nie lag wohl in dem Wort „klar” soviel grausame Ironie wie in unserem Fall. Klar war, daß wir allein waren und nicht auf Hilfe rechnen konnten. Klar war, daß der Stamm der Arawaken in unbekannte Fernen gezogen war. Nach ihm zu forschen würde bedeuten, den Wind auf dem Feld suchen zu wollen. Vor allem aber war mein Plan gescheitert, bald zu den englischen Inseln aufzubrechen. Ohne die Hilfe des Stammes konnte ich nichts unternehmen, und Manauri und dessen
Leute fieberten nach all den Jahren in der Sklaverei geradezu darauf, zu den Ihren zurückzukehren. Sie würden sich unter keinen Umständen, am allerwenigsten jetzt, zu neuen gefährlichen Fahrten in das Karibische Meer überreden lassen. Dem Häuptling gegenüber erwähnte ich meinen Plan mit keinem Wort, denn ich wußte im voraus, wie seine Antwort ausfallen würde: „Komm mit uns in unsere Dörfer und sei unser Gast. Es soll dir an nichts fehlen, und wir werden sehen, wie wir dir helfen können.” Auch die Indianer befanden sich in einer unangenehmen Lage. Die Gegend war unsicher, die raubgierigen Spanier waren zudem gefährliche Nachbarn. Längere Zeit hier zu verweilen hieße sich selbst die Schlinge um den Hals zu legen. Arasybo hatte die Grausamkeit der Spanier in La Soledad in den schwärzesten Farben geschildert. Ihre Macht sei groß, und mit unbarmherziger Faust hielten sie alle nieder. Ständig seien sie unterwegs, tauchten bald hier, bald dort auf und hätten viele Cumanagotos in ihren Diensten.