„Zu dir, Herr. . . zu dir!” Er rang nach Atem.
„So sprich schon”, drängte Manauri neugierig.
„Weißer Jaguar, zu dir kommen Paranakedis — Engländer!” „Engländer? Was faselst du da? Was für Engländer?” „Auf einem großen Segler.”
„So groß wie unser Schoner?”
„ Oh, er ist größer, viel größer.”
„Sprich doch vernünftig, Menschenskind!”
Wie der Sohn Katawis berichtete, war am Abend vorher eine Zweimastbrigg den Orinoko heraufgekommen. Sie ging an der Mündung des Itamaka vor Anker, denn wegen der Ebbe nahm die Strömung der Flüsse zu. Es wurde ein Boot ausgesetzt, und einige Matrosen sowie drei Warraulen aus Kaiiwa, die als Vermittler dienten, kamen an Land. Sie gingen zu Katawi und gaben ihm zu verstehen, daß die Brigg ein englisches Schiff sei und daß der Kapitän den Weißen Jaguar aufsuchen wolle. Der Fischer ging daraufhin an Bord, um ihnen den Weg flußaufwärts zu weisen, während sein Sohn zu Fuß nach Kumaka eilte, um uns über die Ankunft der Engländer in Kenntnis zu setzen. Da das Schiff mit dem Beginn der Flut seine Reise hatte fortsetzen wollen, war jeden Augenblick mit seinem Eintreffen zu rechnen.
„Und du weißt ganz bestimmt, daß sie ausschließlich mich zu sprechen wünschen?” fragte ich Katawis Sohn und wollte meinen Ohren nicht trauen.
„Ganz bestimmt! Ich konnte zwar nicht viel verstehen, doch wiederholten sie immer wieder den Namen Weißer Jaguar und noch einen andern. . .”
„Vielleicht John Bober?”
„Ja, richtig, John Bober.”
Es gab keinen Zweifel mehr, diese Engländer kannten mich und waren auf dem Wege zu mir. Natürlich versetzte mich die Nachricht in ungewöhnliche Aufregung. Eine eigenartige Unruhe kam über mich: Was, zum Kuckuck, mochten sie von mir wollen, daß sie in diesem menschenleeren Labyrinth nach mir suchten? Drohte mir vielleicht Gefahr von ihrer Seite?
Noch hatte ich die drei Jahre zurückliegenden Ereignisse in Virginia in lebhafter Erinnerung. Die machthungrigen Beherrscher dieser Kolonie, Eigentümer riesiger Ländereien, hatten damals Lord Dunbury völlig unbegründet ermächtigt, von dem Tal des Potomacflusses Besitz zu ergreifen, das durch Generationen von mutigen und arbeitsamen Pionieren, unter denen sich auch unsere Familie befand, bewirtschaftet worden war. Als sie uns mit Gewalt unsere Besitzungen entreißen wollten, hatten die verzweifelten Ansiedler zu den Waffen gegriffen. Mir wurde die Führung einer Abteilung anvertraut. Von einer großen Übermacht bedrängt, erlitten wir eine Niederlage, und die rachgierigen Sieger sparten nicht mit Galgen. Sie hetzten mich wie ein Stück Wild, doch es gelang mir, die Mündung des Jakuba zu erreichen, wo ich durch glückliche Umstände auf ein Kaperschiff entwischte. Später verschlug mich das Schicksal auf eine Insel in der Karibischen See, und nun hauste ich im Urwald am Orinoko.
Ob den hochmütigen virginischen Lords meine Rettung zu Ohren gekommen war? Ob sie nun ihre grausamen Fänge nach mir ausstreckten? Ich kannte ihre verbissene Wut, doch nach einiger Überlegung erschien mir ein so ausgedehnter Rachezug unwahrscheinlich, zumal ich ihnen schon lange Zeit nicht mehr gefährlich war. Um so rätselhafter stand die quäIende Frage vor mir, warum die Engländer in diesem verlassenen Urwaldwinkel nach mir forschten.
„Was glaubst du?’ fragte ich den jungen Indianer. „Ob es Freunde sind?”
„Natürlich sind es Freunde”, gab dieser zur Antwort.
„Wieviel Matrosen waren auf dem Schiff?”
„Ungefähr dreimal soviel wie Finger an den Händen. Ich sah fast ausschließlich Weiße, Engländer.”
In dem Augenblick zerriß der Donner eines Kanonenschusses die Luft. Er kam vom Itamaka her, von der Durchfahrt aus dem Potarosee in den Fluß.
„Wir müssen sie auf unseren See lassen”, sagte ich zu Manauri. „Schicke einige Boote aus, sie sollen das Schiff mit Leinen zu unserer Siedlung schleppen.”
„Jan”, erwiderte der Häuptling warnend, „bist du sicher, daß es Freunde sind?”
„Du hast selbst gehört, was der Sohn Katawis berichtete. Nach all dem sind es Freunde, doch kann Wachsamkeit nie schaden!” Während sich sechs bemannte Itauben auf dem Weg zur Seemündung befanden, ließ ich Wagura zu mir kommen und sagte zu ihm in englischer Sprache: „Ich weiß nicht, wer diese Engländer sind und was sie von mir wollen. Wir müssen daher auf der Hut sein. Leider ist Arnak nicht im Dorf, er wäre jetzt von Nutzen. Such dir mit Wissen Manauris fünfzehn gewandte Krieger aus, möglichst aus unserer Sippe, verseht euch mit den besten Waffen und haltet euch an meiner Seite. Achtet auf alles, genauso wie damals, als die Spanier nach Serima gekommen waren. Bleibt ständig in meiner Nähe.”
„Was soll das bedeuten, Jan?” platzte Wagura heraus und setzte eine leidvolle Miene auf. „Irgendwo am Fluß lauern die Akawois, um uns zu vernichten, die acht Burschen im Dorf hier würden uns am liebsten an die Gurgel springen, und jetzt rückt uns noch ein ganzes Schiff voller Leute auf den Hals, deren Absichten unklar sind; man weiß gar nicht, gegen wen man sich zuerst zur Wehr setzen soll. Wird das nicht langsam ein bißchen zuviel, Jan?’ fragte er mit gramverstelltem Gesicht und brach gleich darauf in fröhliches Lachen aus.
„Du hast recht, es ist ein bißchen viel, doch soll der Kopf ruhig ein wenig schmerzen. Hauptsache, er bleibt uns erhalten!” In der Hütte angelangt, trug ich Lasana auf, schnell die spa-
nische Kapitänsuniform hervorzusuchen und zu säubern, und zog mir, um den Glanz zu vervollständigen, sogar die Stiefel an. Nach-dem ich den Degen eingehängt hatte, nahm ich die silberne Pistole zur Hand, schüttete frisches Pulver auf und schob sie in den Gürtel.
Kurze Zeit später erschien die Brigg am Ende des Sees. Die Durchfahrt bereitete keine Schwierigkeiten, da das Wasser ziemlich tief war. Obgleich im Augenblick kein Wind wehte, hatte das Schiff die Vollsegel gesetzt und erschien in dem engen grünen Rahmen wie ein Sagenbild aus einer anderen Welt, wie etwas überaus Majestätisches, das Furcht und Bewunderung zugleich hervorrief.
Dem Zug der Leinen folgend, glitt der Segler langsam über das Wasser und näherte sich der Siedlung. Durch das Leben in der Wildnis war ich der Zivilisation bereits so sehr entwöhnt, daß mich der Anblick der stattlichen Brigg zutiefst aufwühlte, ja fast zu Tränen rührte. Erfüllt von einem eigenartigen Gefühl des Stolzes, spürte ich, wie mir die Augen feucht wurden.
Was würde mir das prachtvolle Schiff bringen? Barg es ein Lächeln des Schicksals oder neues Leid und Ungemach? Um diese Frage kreisten meine Gedanken.
Als die Brigg, die den Namen „Capricorn” trug, etwa zwanzig Fuß vom Ufer entfernt Anker geworfen hatte, bestiegen der Kapitän, ein Teil der Matrosen sowie Katawi und die Warraulen eine Schaluppe und ruderten an Land. Nach indianischem Brauch erwartete ich die Gäste in Gesellschaft Manauris und der übrigen Häuptlinge unter dem Dach eines geräumigen Tokios. Unweit davon, gewissermaßen als Leibgarde, hatten Wagura und seine Abteilung Aufstellung genommen. Alle Männner Kumakas standen unter Waffen, doch waren sie in verschiedenen Hütten des Dorfes versammelt und traten nicht in Erscheinung.
Ich ging den Fremden entgegen. Auf halbem Wege trafen wir uns. Der Kapitän war ein großer, stattlicher Mann im Alter von vierzig Jahren, mit blondem Haar und himmelblauen Augen. Der Ausdruck seines von einem Backenbart umrahmten Gesichts ließ einen starken Willen, Selbstvertrauen und eine gewisse Neigung zum Starrsinn erkennen; doch wirkte sein Gesicht nicht abstoßend oder widerwärtig, sondern erweckte Zuneigung.
Mit ausholender Bewegung die Hüte ziehend, reichten wir uns die Hände, wobei ich sagte: „Sir, ich begrüße Sie herzlich in unserer wenig gastfreundlichen Wildnis.”
Der Kapitän trat zwei, drei Schritt zurück, betrachtete mich vom Kopf bis zum Fuß mit unverhohlener, peinlich wirkender Neugier und lächelte ein wenig spöttisch. Endlich unterbrach er das unnötig lange Schweigen und erwiderte in gutmütigem Tonfalclass="underline" „Wie geht es Ihnen, Mr. John Bober? Well, genauso habe ich Sie mir vorgestellt, kein bißchen anders! So sieht also der Mensch aus, der in Virginia die Rebellion entfachte, auf dessen Kopf die rechtmäßigen Machthaber eine hübsche Summe ausgesetzt haben, der sich den Piraten anschloß, der bei der Verteidigung entflohener Sklaven zwei spanische Abteilungen bis auf den letzten Mann aufgerieben und ihnen einen stattlichen Schoner sowie eine Menge Feuerwaffen abgenommen hat, der Don Esteban, den Abgesandten des venezolanischen Corregidors in Angostura, ins Bockshorn gejagt und ihm nachher noch die Leute erschlagen hat, der das Vertrauen zweier Stämme, der Arawaken und der War-raulen, besitzt und faktisch der König des ganzen unteren Orinoko ist.”